„Der Kraftfahrer öffnete Herrn Aurich, der aus bekannten Gründen nur die hintere Sitzbank benutzte, die Wagentür, nahm Herrn Aurichs Aktentasche, überholte Herrn Aurich auf dem Weg zum Gartentor und öffnete es mit einem geübten Griff durch die Gitterstäbe, ehe Herr Aurich das Tor erreicht hatte.“ Viermal der Name in diesem ersten Satz, absichtsvoll nicht ersetzt durch „seine“, „ihn“ und „er“. Als ob die Autorin sich vor Herrn Aurich verbeugen wollte, in teuflischer Ironie. Denn sie weiß ja schon, was ihm blüht. Und auch wir ahnen, Hochmut kommt vor dem Fall: „Nachts erwachte Herr Aurich von einem brennenden Schmerz auf den Bronchien und würgender Übelkeit.“
Der Parteifunktion
funktionär Aurich erleidet einen Herzinfarkt. Ein Niedergang wird zelebriert werden, dem man bloß noch zuschauen kann. Dass man das Buch nicht beiseitelegt, liegt daran, dass man Monika Marons scharfen Blick genießt, ja ihre zur Kunst erhobene Boshaftigkeit. Die detailgenauen Beobachtungen in diesem Text sind so stimmig, dass man nur staunen kann. Während wir zuschauen, wie Frau Aurich ihren hilflosen Mann behutsam auf die Toilettenbrille setzt und ihm einen roten Plasteeimer zwischen die zitternden Beine stellt, enthüllt sich uns das Bild einer Ehe. Wie Herr Aurich, im „Krankenhaus für verdiente Personen“ dem Tod erst einmal entkommen, darüber sinniert, dass Höhergestellte dort eine „Art von Frischzellentherapie“ bekommen und er womöglich auch, erkennen DDR-Sozialisierte das Regierungskrankenhaus nebst dem Gerücht, dass es für die alten Herren im Politbüro so eine Verjüngungskur gab. Ob es stimmte oder nicht – wenn jemand aus diesem Kreis herausfiel, so munkelte man, sei es das Schlimmste für ihn, dieser Infusionen verlustig zu gehen. Schnelle Alterung setzte ein.Karl Maron (1903 – 1975), der Stiefvater der Schriftstellerin, war von 1955 bis zu seinem Rücktritt 1963 aus gesundheitlichen Gründen Innenminister der DDR. Später betonte sie ihren Familiennamen auf der ersten Silbe, um sich von ihm zu distanzieren. Es ist so lange her, doch immer noch hat die 81-Jährige Maron wohl eine Rechnung mit dem Staat zu begleichen, dem sie 1988 den Rücken kehrte, bevor die DDR ein Jahr später zusammenbrach. Wie sehr ihr diese Erzählung Genugtuung bereitet hat, merkt man ihr an.Die Stellung in der Partei ist IdentitätHerr Aurich: einer von vielen Funktionären, die damals ihre „Verantwortung“ wie einen Buckel getragen haben, dermaßen verwachsen mit dem Ich, dass sie mit ihrer Stellung ihre Identität verloren. Wenn er sich die große Welt als „blutiges Schachspiel“ vorstellte und seine kleine Welt als „pyramidenförmig“, irrte er sich nicht. Aufstiegsstreben gehört zu jeder Rangordnung. Maron wird es bewusst gewesen sein: Den Mann, dem da die Wagentür aufgehalten wird, kann man sich ebenso als Industrieboss denken, der sich über Intrigen nach oben hangelte, mit einem Infarkt in privatärztliche Behandlung kommt und schließlich seinen Posten verlassen muss. Der sich unersetzbar wähnte und nun ins Leere läuft. Der seinen Abstieg nicht akzeptieren kann, eine bizarre Revolte anzettelt.„Ich bin ein Oberer!“, schreit Herr Aurich in seiner Verzweiflung am Schluss, begleitet von weiblichem Gelächter. Dabei war er Elektriker, ehe er nach dem Besuch einer Gewerkschaftsschule erst Gewerkschaftsvorsitzender wurde im größten Betrieb der Stadt, dann im Bezirk weiter aufstieg und nun den Sprung nach Berlin schaffen will. Auch Karl Maron (Vater Kutscher, Mutter Reinemachefrau) war einst Maschinenschlosser, ehe er, mit der „Gruppe Ulbricht“ aus der Emigration zurückgekehrt, Stück für Stück in die DDR-Führungsriege aufrückte.Denkt man all diese Zusammenhänge mit, entdeckt man in dieser brillanten, kurzen Erzählung eine tragische Einsicht: Sich mit einer Hierarchie zu verbünden, ist wie ein Teufelspakt. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Es ist ein Memento mori, wie es die Literatur schon seit der Antike kennt: Eitle Ansprüche zerbrechen an unserer Vergänglichkeit. Mitgefühl mit Herrn Aurich hat die Autorin zumindest nicht ausgeschlossen.Placeholder infobox-1