Marko Martin war 19, als die Mauer fiel. In seinem Buch erzählt er, wie er im August 1990 im Haus des Schriftstellerverbandes an der Berliner Friedrichstraße in Bücherkisten kramt. „‚Die sind längst ausgesondert‘, sagte die Sekretärin (...) Aber wer hatte das getan ...“ – Viele waren beteiligt, die DDR-Literatur aus den Regalen zu räumen, so wie Ost-Produkte aus den Kaufhallen verschwanden, der Palast der Republik abgerissen, Straßen umbenannt wurden.
„Wo gesiegt wird, wird zu Ende gesiegt“, hat Hermann Kant einmal gesagt. Als Marko Martin in der Friedrichstraße in Bücherkisten kramte, war Kant als langjähriger Verbandspräsident schon Monate nicht mehr im Amt. Im Herbst 1989 hatte er die Vertrau
ie Vertrauensfrage gestellt und war haushoch bestätigt worden. Zum Schriftstellerkongress im Frühjahr 1990 wurde er nicht einmal eingeladen. Warum ich im Zusammenhang mit Marko Martin auf ihn komme? Weil beide in einem bezeichnenden Gegensatz stehen. Bei Kriegsende ebenfalls 19, war Kant vier Jahre in polnischer Gefangenschaft. Dort reifte ein Bewusstsein deutscher Schuld (er hat es im Roman Der Aufenthalt von 1977 beschrieben) und deutscher Verpflichtung. Eine sozialistische DDR, die dem Nazismus die kapitalistische Grundlage nahm – bis zum Schluss wollte er an der „Sache“ festhalten, sah durchaus die unerfreulichen „Sachen“ und meinte, etwas bewegen zu können im Dialog mit der Macht.Marko Martin aber hatte von vornherein keine Bindung an diesen Staat. Wenn er von einer verschwundenen Kultur des Ostens spricht, die entdeckt werden müsse, gilt sein Interesse vornehmlich den Dissidenten, den ausgereisten und abgeschobenen Autoren von Wolf Biermann bis Jürgen Fuchs, Stefan Heym bis Lutz Rathenow, Günter Kunert bis Siegmar Faust. Künstlerische Wertigkeiten spielen da eine geringere Rolle als politische. Dass er auch jenen Gerechtigkeit widerfahren lassen will, die hüben wie drüben wenig Beachtung fanden, ist ehrenwert. So ungerecht ich manche Formulierung empfand, ich stelle mir vor, wie ein kleiner Junge die Verhaftung des Vaters erlebte. In Handschellen wurde er abgeführt – weil er nicht in der NVA dienen wollte. Auch Kant sollte ja mit 23 noch dorthin, konnte sich aber mit dem Hinweis auf einen durch den Krieg begründeten Pazifismus frei machen.Mit was für Drohungen die Ausreiseanträge von Marko Martins Eltern beantwortet wurden – wieso nur musste das so sein? Durch die scharfen Restriktionen hat sich der Staat doch nur Feinde gemacht. „Unversöhnlich“, „kompromisslos“ – derlei Begriffe waren, es hat mich seit meiner Kindheit bedrückt, bei vielen älteren Genossen positiv besetzt. Eine Generation, die Nazismus und Krieg erlebt hatte, auch die Folgen des Stalinismus für die DDR, war anders als die im Frieden Aufgewachsenen. Indes sind diese Nachgeborenen, die einen freieren sozialistischen Staat wollten, bis zum Schluss nicht wirklich zum Zuge gekommen. Alle entscheidenden Positionen von den Älteren besetzt, die vornehmlich ein Mittun verlangten. Da waren Pläne für demokratische Veränderungen in der DDR in ein imaginäres Später verbannt – und zerstoben mit dem Beitritt zur BRD, der gerade diese mittlere Generation mit voller Wucht getroffen hat. Viele verloren ihre Stellung, während die Älteren in Rente gingen und dabei Glück hatten, wenn sie nicht als „staatsnah“ eingestuft waren. Die 20-, 30-Jährigen galten dagegen erst einmal als „unbelastet“. Dass auch sie die DDR noch mit sich tragen würden – so verschieden auch immer – , führen die drei hier besprochenen Bücher vor Augen, die nahezu zeitgleich erschienen sind.Thomas Oberender, seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele, hat sich lange nicht als Ostdeutscher empfunden und nennt seine Streitschrift nun Empowerment Ost. 1966 in Jena geboren, hatte er in der späten DDR „irgendwo zwischen James Baldwin, Perestroika und Neuer Deutscher Welle“ gelebt, während ich, Jahre älter, im Neuen Deutschland für ausländische Literatur zuständig war und Perestroika-Publikationen auf Russisch las. Wie er habe ich den „kurzen Frühling der Anarchie“ genossen, „in dem die DDR noch bestand, aber alles neu verhandelt wurde“. Dabei hätte ich für ihn damals zu den „Etablierten“ gehört.Kurzer Frühling der AnarchieWie konnte man sich in diesen turbulenten Zeiten eine eigene Identität bewahren? Indem man sich treu blieb, ohne zu verhärten. Thomas Oberender erinnert an den Schmerz, den viele Ostdeutsche kennen, erinnert an die Rede vom „Unrechtsstaat“ bis hin zur empörenden Gleichsetzung mit dem Dritten Reich. Aber den Menschen in der DDR habe niemand Demokratie beibringen müssen. „Als die Angst verschwand“, bemerkt Oberender, „kam eine über 40 Jahre ihres Bestehens tatsächlich tiefgreifend veränderte Mentalität zum Vorschein, eine von anderen sozialen Strukturen und Verhaltensweisen geprägte Gesellschaft, die durchaus auch ein Selbstbewusstsein jenseits des Klassenstatus hervorgebracht hat“.Worin dieses Selbstbewusstsein bestehen könnte, führt der Philosoph Gunnar Decker in seinem dicken Band über Die späten Jahre der DDR auf lebendige, mitreißende Weise vor Augen. Eine reiche, differenzierte Literatur- und Kunstlandschaft in so detaillierter Darstellung – das gab es bislang nicht. Wie im Buch Zusammenhänge und Widersprüche ausgelotet werden, ist einzigartig. Wenn heute über die DDR geredet wird, folgt man ja meist jenem Narrativ, das die Staatsführung für sich beanspruchte: Eigenständig hätten sie Politik gemacht. So widerspruchsvoll sich mitunter die Beziehungen zur Sowjetunion gestalteten, bis zum Dissens in den Jahren der Perestroika, befand sich die DDR freilich an der Westgrenze des „sowjetischen Imperiums“. Da war es, wie Gunnar Decker untersucht, für das gesellschaftliche Klima, auch das literarische, von Belang, ob in Moskau Chrustschow oder Breshnew, Andropow, Tschernenko oder Gorbatschow an der Macht waren und wie sich die jeweiligen Beziehungen zum Westen gestalteten, wo man sich – Marko Martin lässt das ganz außer Acht – mit dem anderen politischen System im Kalten Krieg befand.In dieser Konstellation hatten sowjetische Autoren oft größere Freiräume und entsprechende Wirkung in der DDR. So stehen in Gunnar Deckers Buch brillante Essays über Erwin Strittmatter, Monika Maron, Jurek Becker, Christoph Hein, Franz Fühmann, Heiner Müller, Christa Wolf und andere neben solchen über Tschingis Aitmatow, Valentin Rasputin, Michail Schatrow. Letztere erschienen im Verlag Volk und Welt, der in der DDR sozusagen das Tor zur Welt aufgestoßen hatte. Für alle Nationalliteraturen gab es Spezialisten. Nach und nach wurden sie entlassen, als es den Staat nicht mehr gab, der den Verlag finanziert hatte. Die Immobilie wurde von der Treuhand verkauft. Schließlich, nach mehreren Eigentümerwechseln, ist der Verlag untergegangen, wie andere Kulturinstitutionen auch. So wurde vieles, wie Gunnar Decker schreibt, „mit dem Ende der DDR an Entwicklungslinien mitsamt Gedanken, Ängsten und Träumen gekappt und vom sich siegreich globalisierenden Kapitalismus, der sogleich das ‚Ende der Geschichte‘ ausrief ..., aus dem eigenen Kanon aussortiert und zu wertlosem Abfall erklärt.“Er zitiert den aus dem DDR-Schriftstellerverband gemeinsam mit Stefan Heym ausgeschlossenen Klaus Schlesinger: Die Einheit Deutschlands sei eine „Geldheirat“ gewesen, mehr nicht. Der „Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe“ scheine ihm erfüllt. „Was jetzt allein noch helfen könne? Dass der Westen die moralische Größe aufbringe, die DDR noch einmal völkerrechtlich anzuerkennen: Sozusagen postum, mit allen Konsequenzen.“ Das wird nicht stattfinden. Ein Phantomschmerz ist geblieben.Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.