„Für die sind wir die Russen“: Christoph Heins neuer Roman „Unterm Staub der Zeit“

Erinnerungen Wer in der DDR-Debatte zu mehr Nüchternheit zurückkehren will, sollte Christoph Heins autobiografisches Buch „Unterm Staub der Zeit“ lesen. Erzählt wird nur vermeintlich eine unspektakuläre Schülergeschichte
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 21/2023
Westberlin, 1952: Der Ostberliner Christoph Hein ging hier zur Schule
Westberlin, 1952: Der Ostberliner Christoph Hein ging hier zur Schule

Foto: Pollaczek/ Ullstein Bild

Ob es nun ein Roman ist oder Autofiktion – wie Christoph Hein den „Staub“ wegbläst von seiner Jugendzeit, ließ manche Rezensenten ins Husten geraten. Zu trocken die Erzählatmosphäre? Oder steckte jemandem selbst Juckendes in der Kehle? Obgleich sich der Autor gern und im Detail seiner Erinnerungen versichert hat, dies ist keine lustige Pennälergeschichte à la Feuerzangenbowle. Nicht der Versuchung zu erliegen, etwas zu „belletrisieren“ und dadurch der Wirklichkeit die harten Kanten abzuschleifen, war doch seit jeher Heins Schreibprogramm.

Von allem Anfang an: In diesem Roman von 1997 war schon angekündigt, dass Daniel (bei diesem Alter Ego bleibt es) auf ein Gymnasium in Westberlin gehen würde, wo sein Bruder bereits lernt. Das vertraut er einem Zirkusartisten an. Der fasziniert ihn, weil er so grüne Augen hat wie der Evangelist Lukas auf dem „Altarbild in unserer Marienkirche“. „Durch seine Augen war er vor allen anderen hervorgehoben und durch seinen besonders gelassenen, gleichgültigen Blick, den er auf den blutüberströmten, mit Nägeln durchbohrten Jesus warf.“

Ergänzung zu Dirk Oschmann

Diesen „Lukas-Blick“ hat Christoph Hein auch immer wieder für sich selbst geübt: Gelassenheit, präzise Nüchternheit des Chronisten, auch wenn man sich lesend mitunter wünschte, dass er etwas mehr fabulieren würde. Er beobachtet und berichtet. Ungerührt. Aber darunter verbirgt sich etwas, das ihn bedrückt, eine Erregung, die er sich nicht anmerken lassen, zu der er Distanz finden will. Allerspätestens jetzt, in diesem vermeintlich so unspektakulären Buch Unterm Staub der Zeit, kann man spüren, wie da früh schon eine Ernüchterung war, mit der er sich fortan abfinden wollte. Das ist der Reiz: sich der Lektüre zu öffnen, sich einzufühlen in den 14-Jährigen, der aus einer Fremdheit ausbrechen wollte.

„Aus Schlesien wurden wir vertrieben, und in Guldenberg blieben wir bis heute die Fremden (…) Wir waren und sind die unerwünschten Flüchtlinge.“ So der Vater, der darauf beharrte, „dass seine wahre Heimat Schlesien war und dass er, ob es dem Staat und den örtlichen Behörden passe oder nicht, die Aufgabe habe, Gottes Wort zu verkünden, auch und gerade in einem Staat, der den Atheismus als neues Glaubensbekenntnis predigte“. Diese Zeilen schreibend, ist Christoph Hein bewusst gewesen, dass sie ihm zu DDR-Zeiten gestrichen worden wären. Überhaupt: Dass da einer in Westberlin aufs Gymnasium ging, weil er als Pfarrerssohn nicht zur Erweiterten Oberschule zugelassen war – derlei Verletztheit hat damals nicht laut werden dürfen. Die Universitäten sollten Kindern aus Arbeiter- und Bauern-Familien offenstehen. Ein einstiges Bildungsprivileg war gebrochen – auf Kosten einer neuen Ungerechtigkeit.

„Hier seid ihr keine Außenseiter mehr, hier seid ihr willkommen“, hatte der Vater versprochen. Denn in diesem Gymnasium seien „ja vor allem Söhne von Pfarrern und Ärzten, aus gebildeten Familien. Da ist von vornherein ein ganz anderes Niveau da“. Doch da war nichts Gemeinsames. Ostklassen und Westklassen lernten für sich. Wie sie miteinander auskämen, fragt Daniel den Bruder. Sie hätten mit denen keinen Kontakt, bekommt er zur Antwort. „Für die sind wir die Russen.“ Wie tief heutige Ressentiments wurzeln! Auch wenn Christoph Hein keine Polemik laut werden lässt wie Dirk Oschmann in seinem viel diskutierten Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, sein Roman lässt sich als Ergänzung dazu lesen. In der DDR war er wegen seiner Herkunft zurückgesetzt, in Westberlin wieder. Denn aus einer gebildeten Familie zu kommen, wie der Vater sich zugutehielt, reichte nicht, wenn sie nicht wohlhabend war.

Was die Brüder alles unternahmen, um sich wenigstens ein kleines Taschengeld zu verdienen, wie sie dabei auch die Grenzen des Erlaubten überschritten, gehört zu den Turbulenzen der Handlung. Als Herausforderung erleben es die Jungen und als Demütigung zugleich. Sie würden wenig Chancen haben, in Westberlin ein Mädchen kennenzulernen, sagt Faro, der sich zu seiner Doktorarbeit in Politologie als „Adjunkt“ im Internat noch etwas hinzuverdient. „Tut mir leid, Jungs (…), aber ihr seid einfach im falschen Film gelandet. Wir haben hier die Zeit des Wirtschaftswunders, da muss Geld zu Geld kommen, und mit Habenichtsen ist im Wirtschaftswunderland nichts anzufangen.“ Nicht einmal zu einem Eis einladen könnten sie die Mädchen. Lieber sollten sie sich eine „schöne Blume“ in Ostberlin suchen.

Mit harter Knochenarbeit

Real oder fiktiv, Faro ist eine wichtige Gestalt im Buch, weil Ungerechtigkeit nicht auf Ost–West reduziert werden kann. Aus einem Bauernhof in Schleswig-Holstein kommt er, wo jeder Groschen dreimal umgedreht wurde. Das Studium hatte er sich „nur mit harter Knochenarbeit“ leisten können, indem er in den Ferien im Ruhrpott am Hochofen arbeitete. Und nun kämen sie, die N**** aus dem Osten. „Eure Familien sind wahrscheinlich nicht mal arm, vielleicht sogar gut betucht, aber mit einer Währung, die hier allenfalls als Spielgeld gilt.“

Es liegt im Auge der Betrachter, bei derlei Sentenzen aufzumerken, die ja in vielerlei Alltäglichkeiten eingebettet sind. Ohne Selbstmitleid werden Kränkungen konstatiert. Während der Ferien kam die Nachricht vom Mauerbau. Keine Chance, die Ausbildung in Westberlin fortzusetzen. Dort gelernt zu haben, wurde dem Jungen nun zur Last gelegt. Erst 1964 hat er sein Abitur an einer Abendschule ablegen können. Und dann vergingen immer noch drei Jahre, bis er zum Studium zugelassen war.

Fremd, nicht gewollt zu sein – das Romanwerk Christoph Heins lebt von dieser prägenden Erfahrung, die in der Realität immer wieder Bestätigung fand. Von der DDR bis in die Bundesrepublik, als Hein 2006 die Intendanz des Deutschen Theaters unmöglich gemacht wurde, weil es gegen ihn als Ostdeutschen an der Spitze des renommierten Hauses Vorbehalte gab.

Unterm Staub der Zeit Christoph Hein Suhrkamp 2023, 221 S., 24 € (Leseprobe)

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