Husarenritt ins Jetzt

Literatur Pferde werden vom Menschen bewundert – und bedroht. Stefan Schomann folgt ihnen in die tiefste Provinz
Ausgabe 42/2021

Das Buch beginnt in der Mongolei an der Grenze zu China, wo der Schweißer Nyamsuren sich erinnert, als Kind mit seinem Großvater inmitten einer Herde von Wildeseln ein Pferd erspäht zu haben. „Tachi!“, staunte der Alte und flüsterte dem Enkel zu, dass diese Steppenbewohner kaum noch zu finden seien. Später aber war Nyamsuren bei der Landung eines „Antonow“-Flugzeuges dabei. Stefan Schomanns neues Buch Auf der Suche nach den wilden Pferden zeigt auf dem Vorsatzpapier, wie Pferde aus den Kisten steigen, die aus diesem Flugzeug entladen wurden, und die angestammte Heimat in Besitz nehmen. Noch erstaunlicher ist das Bild auf dem Nachsatzpapier: Vor dem Sarkophag des Reaktors von Tschernobyl grasen Przewalski-Pferde. Mit vielen anderen Tieren – Bären, Luchsen, Wölfen – wurden sie in der „Zone“ angesiedelt. „Ein Elch watet im Kühlsee“, schreibt Schomann, dessen „Suche nach den wilden Pferden“ ihn auch dorthin führte.

Ein Katastrophenort als Biotop? Dieses Buch ist eine Reise ins Unbekannte, eine Erzählung von Abenteuern, packend und aus der eigenen Erfahrung des Autors gespeist. Lesend gelangt man an Orte, von denen hierzulande kaum jemand gehört hat: Biidsch, Prypjat, Saissan, Baty, Chowd. Bei den Wanderhirten in der zentralasiatischen Steppenwüste Gobi erleben wir ein Volksfest, wo Menschen die Erde mit Stutenmilch benetzen und einen Gruß gen Himmel schicken: „Kumys zu Kosmos. Kosmos zu Kumys. Auch Öl, Blütenblätter, Räucherwerk und Kekse sollen die Geister erfreuen.“ Das Innere Asiens: Der 1962 in München geborene Schomann will Grenzen überwinden – auch solche, die wir in unseren Köpfen haben. Mit Russen, Kasachen, Kirgisen, Mongolen und Chinesen leben wir auf einer Erdplatte: Eurasien. Wir sind nur ein kleiner Teil davon, auch wenn wir uns als Zentrum wähnen. In den unendlichen Weiten der Gobi spürt der Schriftsteller, wie die Erde „brummt“ (was sogar messbar ist). „Sie klingt und schwingt ja immer, es wird nur von vielerlei Alltagsgeräuschen, von der Beschallung durch Medien, von inneren Spannungen und vom Grundrauschen der Zivilisation überlagert.“ Den Einstieg in die Höhle von Lascaux in der Dordogne, bei dem es 17.000 Jahre in die Tiefe der Zeiten geht, erlebt er wie eine Initiation. Über 350 Felszeichnungen von Pferden finden sich dort.

Für unsere fernen Vorfahren sind Tiere nicht mehr als Jagdbeute gewesen. Über ihre Ausrottung haben sie sich keine Gedanken gemacht. Wobei der Mensch das Pferd von Anfang an bewundert hat. Weil es Maskulines und Feminines ausstrahlt, wie ein französischer Forscher meint: Kraft und Überlegenheit ebenso wie Grazie und Sensibilität? Irgendwas jedenfalls scheint Mensch und Pferd zu verbinden. Die ältesten Darstellungen der Huftiere sind 35.000 Jahre alt, die frühesten Hinweise auf eine Domestikation allenfalls 6.000. „Pferdegeschichte ist Menschheitsgeschichte“, so Schomann.

Freiheit erlernen

Spürbar hat er selber Spaß an seinem „kulturhistorischen Husarenritt von der Prähistorie bis in unsere Tage“. Wie er seine Recherchen mit Selbsterfahrenem verbindet, wie er sich von der eigenen Sprachkraft mitreißen lässt, macht seine Kunst als Autor aus. Auf packende Weise folgt er den Steinzeitnomaden ebenso wie den Reiterheeren des Dschingis Khan, begibt sich auf die Spuren diverser Forschungsreisender wie Alfred Brehm, der den asiatischen Esel zum Stammvater der Hauspferde erklärte, weil er der echten Wildpferde nicht ansichtig wurde. So wurde Nikolai Michailowitsch Przewalski (1839 – 1888) zu ihrem Entdecker. Der russische Militär und Naturforscher nahm die Berichte ernst, die ihm zugetragen wurden, und schickte 1878 Haut und Schädel eines Wildpferdes, das von kirgisischen Jägern erlegt worden war, nach St. Petersburg. Bei späteren Reisen hat er dann ganze Herden mit eigenen Augen gesehen.

Normalerweise sind es Fluchttiere, aber bei der Buchpremiere im Berliner Tierpark kommen sie einem neugierig entgegen: Mit bernsteinfarbigem Fell, Irokesenmähne, dem charakteristischen Aalstrich auf dem Rücken strecken sie einem ihre weißen Mäuler entgegen und blicken einen aus schräg stehenden Augen an. Fünf Stuten – sie wissen nicht, dass alle lebenden Tachi von 13 Eltern abstammen, dass es in der Mongolei 850 von ihnen gibt, in China 600, eine Herde auch in der Ukraine, sozusagen als Ersatz für die ausgerotteten europäischen Wildpferde.

Zoobesucher meinen mitunter, alles sei nur für sie selber da. Doch Hauptaufgabe von Tiergärten ist inzwischen die Zucht, um der Welt den Artenreichtum zu erhalten. Bisher sind 17 Berliner Przewalski-Pferde in ihre angestammte Heimat gereist. Wobei das Auswildern, wie man erfährt, eine langwierige Prozedur ist. Erst müssen die Pferde Herden bilden, was gewöhnlich in Prag geschieht. Und am Bestimmungsort ist das Leben in Freiheit erst zu erlernen. Während man darüber nachdenkt, wie viele Arten dennoch ausgestorben sind, verlieren die Pferde das Interesse. Sie drehen sich weg. Als würden sie sagen wollen: „Lasst uns in Frieden.“

Info

Auf der Suche nach den wilden Pferden Stefan Schomann Galiani Berlin, 464 S., 25 €

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