Ratgeber Ein Jammerbuch? Nein! Heide Lutoschs Essay „Kinder haben“ ist mehr als Klage. So polemisch, pauschal dieses Buch mitunter ist, zielt es auf Erkenntnisgewinn
Es ging mir nicht gut, und wenn ich genau hinsah, merkte ich, dass es auch den anderen Müttern nicht gut ging. Keiner einzigen Mutter, mit der ich in all den Jahren zu tun hatte, ging es wirklich gut.“ – Wirklich, keine glückliche Mutter weit und breit? So zugespitzt, wie Heide Lutosch es in ihrem Essay Kinderhaben formuliert, setzt sie wohl auch auf Gegenrede. Denn was kann einer Publikation Besseres passieren, als etwas zur Diskussion zu stellen, das zwar nicht neu ist, aber immer aufs Neue umtreibt. „Ich fühlte mich schrecklich in einer Situation, die qua Definition schön war. Ich schämte mich für dieses Leid.“ Zumal sie ihre Lage noch als „luxuriös“ betrachten musste im Vergleich mit Frauen, die alleinerziehend, von
ziehend, von Armut betroffen sind. „Ich fühlte mich sehr allein.“Eine bürgerliche ErfindungWie die Autorin uns offen gegenübertritt, ohne sich selbst zu schonen, stellt sie sich anderen Müttern zur Seite, die sich selbst die Schuld geben an ihren Nöten. Kinder zu haben gilt als Privatvergnügen und wird Frauen nicht als Plus angerechnet. Ja, sie müssen sich oft so darstellen, als ob sie kein Problem damit hätten. Der Arbeitsmarkt ist nicht geschlechtergerecht. Bei der Einstellung gilt die Verwendbarkeit. Wenn Mütter (oder auch Väter) verkürzt arbeiten, bekommen sie später weniger Rente. Laut Bertelsmann-Stiftung fehlen in Deutschland rund 384.000 Kita-Plätze.Heide Lutosch, 1972 in Niedersachsen geboren, lebt in Leipzig als Übersetzerin aus dem Englischen. Ihr Buch ist nicht lediglich Klage, das Aufbegehren ist politisch. Dabei fließen Bekenntnis und Analyse auf eine so mitreißende Weise ineinander, dass jede, jeder sich einfühlen, dieses Problemfeld durchdenken, mit eigener Erfahrung in Beziehung setzen kann. „Die Schönheit des Kindergroßziehens ist eine bürgerliche Erfindung (…) Die Schwangerschaft wird zum neunmonatigen Körpererlebnis, die Geburt zum kreativen Akt, das Stillen ein Erlebnis bisher ungekannter Nähe. Und die bei allen Menschen weitgehend identisch ablaufende körperliche und kognitive Entwicklung vom Neugeborenen zum krabbelnden und brabbelnden Kleinkind wird zur großartigen Entfaltung eines einzigartigen Individuums verklärt – die nur mit absoluter Aufmerksamkeit der Mutter gelingen kann. Auf so einen Scheiß bin ich reingefallen?“ Beim Lesen dachte ich an meine Tochter, wie sie nach der Geburt des Enkels in zornige Tränen ausbrach. Obwohl ich sie auf existenziell Hartes eingestimmt hatte, war sie von der Realität im Kreißsaal erschüttert. Und ich dachte an meine Mutter, die ich kurz vor ihrem Tode fragte, welche Lebensträume sie sich mit uns vier Kindern nicht erfüllen konnte. Sie wehrte ab: „Das Wichtigste für mich waren meine Kinder. Und das sage ich noch einmal und noch einmal.“Unser Vater war die Woche über auf Montage und die alten Schwiegereltern mit in der Wohnung. Ich sehe noch vor mir, wie müde meine Mutter oft war. Aber sie haderte nicht mit sich. Als wir größer waren, arbeitete sie halbtags als Küchenhilfe und war stolz, dass wir studierten. Während Frauen in der BRD bis 1977 nur mit Einverständnis des Ehemanns bezahlte Arbeit annehmen durften, war Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der DDR ausgemachte Sache. „Also habt ihr uns bis abends in die Krippe gegeben, dann gefüttert, gebadet und ins Bett gebracht.“ Meine Tochter sagt es ohne Vorwurf. Indem sie studierte, promovierte, folgte sie meinem Lebensentwurf. Aber ich sehe sie als bessere Mutter und bin bezaubert von der Kleinen, die in unerschüttertem Grundvertrauen aufwachsen darf. Der Preis dafür ist hoch. Selbstverwirklichung? Oft kann man nicht einmal zu sich selber kommen, wenn man ein kleines Kind um sich hat.Dennoch: Was es für ein Glück ist, ein Baby aufwachsen zu sehen, dieser Gedanke fehlt mir im Buch. „Muttersein und Autonomie schließen sich aus“, rief Heide Lutosch eines Abends dem erstaunten Kindsvater entgegen. Wenn moderne Männer sich heute auch ins Häusliche einbringen, ist das wünschenswert und bleibt kompliziert, denn ererbte Rollenverteilungen wurzeln tief.Bleib einfach im SchlafanzugEin permanent schlechtes Gewissen hatte auch ich, doch wurde es nicht so geschürt wie heute „von Kinderärzten und Hebammen, in Frauen- und Elternzeitschriften, in Erziehungsratgebern und Internetforen“, zumal „sich mit mütterlichen Schuldgefühlen viel Geld verdienen lässt“.Hellsichtig beschreibt Heide Lutosch das Dilemma, in das Frauen heute mehr verstrickt sind denn je. Einen Wust von Erwartungen tragen sie mit sich herum, wollen alles schaffen und sich oft Schwäche nicht eingestehen. Dabei stehen auch Männer unter einem Druck, der ungern zugegeben wird. Aufstiegswunsch und Abstiegsangst, verbissenes Schweigen und lautstarker Groll – sodass Frauen „einen nicht unwesentlichen Teil ihrer psychischen Energie“ darauf verwenden, „mit den Schwächen ihres Partners ‚pädagogisch‘ umzugehen“.So polemisch, pauschal dieses Buch mitunter ist, zielt es auf Erkenntnisgewinn, was eigene Lebensansprüche und -möglichkeiten betrifft. „Kindergroßziehen in einer kapitalistischen Männergesellschaft gehört zu den anstrengendsten und konfliktreichsten Dingen, die man tun kann. Je kleiner der Geldbeutel, umso konfliktreicher und anstrengender.“Mütter sind in einer Zwickmühle von Entscheidungen. Auch wenn es vielleicht mal anders versprochen war: Du kannst nicht alles haben und schon gar nicht perfekt sein. Wo willst du Abstriche machen? „Scheiß auf runde Geburtstage, scheiß aufs Bügeln, scheiß aufs Schönsein, scheiß darauf, Kuchen zu backen und Sterne zu basteln. Bleibt an sämtlichen Weihnachtsfeiertagen im Schlafanzug zu Hause.“ Übermütige Ermutigung: Gesteh dir ein, wie du dich fühlst, und mach dich frei.Placeholder infobox-1