Mein Frisör, die Vogue und der Mindestlohn

Mindestlohn Mindestlohn wollen doch alle, oder? Die Leute sollen doch endlich anständig verdienen. Mein Frisör findet das nicht – das Einmaleins der freien Marktwirtschaft.

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Frisöre verdienen ja bekanntlich nichts. Selbst wenn sie gut sind. Selbst, wenn sie sehr gut sind. Mein Frisör zum Beispiel ist so gut, dass ich ihm durch drei Stadtteile hinterher reise. Von einer Billigfrisör-Filiale in Friedrichshain wurde er in den Prenzlauer Berg versetzt. Dazwischen liegen bekanntlich Welten. Aber egal, ich gehe überall hin, wo mein Frisör hingeht, ich bin vollkommen aufgeschmissen, sollte er eines Tages entscheiden, mit dem Frisieren aufzuhören. Und das kann durchaus passieren. Denn der Lohn ist so gering, dass es den Beruf eigentlich schon gar nicht mehr geben dürfte. “Mindestlöhne müsste man besonders für Frisöre einrichten, vollkommen unterschätzt, dieses grandiose Kunsthandwerk”, gab ich mich neulich kämpferisch, als ich nach einer Dreiviertelstunde auf der Kastanienallee ankam. Ich wollte ihm damit zeigen, dass ich seinen Beruf ernster nehme als andere, die vielleicht denken: “Och, cool, nur 15 Euro, einmal bitte alles kurz.” Aber weit gefehlt! Mein kleiner Solidarisierungs-Versuch kam überhaupt nicht gut an. “Mindestlohn macht uns das Geschäft erst recht kaputt”, sagte mein Frisör. Erstaunt bäumte sich mein Gewerkschafts-Über-Ich auf: “Was?” "Naja" – und nun kam eine Erklärung, die meinen grob gestrickten Bürgertumsverstand erstmal richtig heiß laufen ließ: “Wenn die Löhne steigen, muss auch der Preis der Ware steigen. Und dann kommen überhaupt keine Kunden mehr. ” Während ich überlegte, wie ich jetzt ohne irgendwie aufgeregt oder gar angestrengt politisch zu wirken, gegen dieses Einmaleins der freien Marktwirtschaft ankommen konnte, schnalzte mein Frisör siegessicher mit seinem Zungenpiercing. “Aber die Kunden haben dann ja auch vielleicht mehr Geld, weil sie in ihrem Job auch Mindestlohn bekommen”, sage ich vage. “Schau mal, fast wie in deiner Vorlage aus der Vogue”, kam von hinten. Stimmt, sage ich. Er ist eben einfach gut, mein Frisör.

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irritation im alltag

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