„Da gab es ja vorher nix“

Interview Wie Verdrängung und Ausschluss in der Stadt vonstattengehen, erklärt Tashy Endres
Ausgabe 37/2018

Erst kommen die Kulturarbeiter*innen, dann die Investor*innen. Sie erst machen das kulturelle Kapital „real“. Wir haben die Stadtforscherin Tashy Endres gefragt, ob Veranstaltungen wie die Berlin Art Week zu dieser Entwicklung zwangsläufig beitragen. Endres forscht auch zu Intersektionalität in der Stadt, wir haben daher die Schreibweise mit Sternchen beibehalten.

der Freitag: Frau Endres, derzeit schreiben Sie Ihre Dissertation.Worum genau geht es darin?

Tashy Endres: Der Arbeitstitel lautet „(Un)Learning Architecture for Spatial Justice?“. Ich untersuche, wie strukturelle Diskriminierung und Ausschlüsse im Raum und durch Raum geschehen – und wie zukünftige Architekt*innen am besten über ihre Verwicklungen in diese Mechanismen lernen können, um das zu ändern. Um Ausschlüsse, Stereotypisierungen und das derzeitige „business as usual“ der Aufwertung und Verdrängung in den Städten zu unterbrechen, brauchen Planer*innen einerseits ein differenziertes Verständnis von urbaner politischer Ökonomie. Andererseits müssen sie dafür oft erst mal eine ganze Menge unhinterfragter „Normalitäten“ und traditioneller Rollenverständnisse über ihren Beruf verlernen. Denn viele Architekt*innen tragen sonst – manchmal ohne es zu wissen, und oft ohne es zu wollen – zu genau diesen Verdrängungs- und Ausschlussprozessen bei.

Zur Person

Tashy Endres studierte Architektur an TU und UdK Berlin und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu Intersektionalität in der Stadt, Gentrifizierung, urbaner politischer Ökonomie, Systemen der Wohnraumversorgung, urbanen sozialen Bewegungen

Foto: Claudia Goldmüller

Denken Sie, dass der Kunstbetrieb und Veranstaltungen und Festivals wie die Berlin Art Week zur Gentrifizierung beitragen, weil sie international Aufmerksamkeit auf sich ziehen – oder ist das weniger relevant, da die Besucher nur temporär sind?

Um das zu beantworten hilft es zunächst zu schauen, wie kulturelles und ökonomisches Kapital zusammenhängen und zu Verdrängungsfaktoren für Menschen mit geringem Einkommen werden können. Die Stadtforscher*innen Sharon Zukin und Andrej Holm haben das schon sehr differenziert beschrieben. Ich versuche es mal am Beispiel von Neukölln zu erklären. Kulturarbeiter*innen oder andere junge, gut ausgebildete Menschen haben oft viel kulturelles Kapital, also viel künstlerische, ästhetische oder intellektuelle Bildung oder Praxis. Da sie oft nicht viel ökonomisches Kapital haben, wohnen sie oft vor allem in (ehemaligen) Arbeitervierteln wie Neukölln, weil die Mieten dort relativ niedrig waren. Dort lebten bis vor zehn Jahren bereits viele Menschen mit geringem Einkommen, die allerdings auch über wenig kulturelles Kapital verfügen. Das heißt nicht, dass sie keine vielfältige kulturelle Bildung und Praxis haben – im Gegenteil. Schon damals lebten in Neukölln Menschen mit Biografien aus der ganzen Welt und es gab unzählige künstlerische und kulturelle Aktivitäten. Aussagen wie „da gab’s ja vorher nichts“ sagen daher mehr über den eingeschränkten kulturellen und sozialen Horizont der Sprecher*innen aus als über das tatsächliche kulturelle Leben des Stadtteils. Sozial-chauvinistische Perspektiven wie diese sind jedoch auch strukturell verankert. Denn welche Bildung, Kultur oder künstlerische Aktivität als kulturelles Kapital „zählt“ hängt stark ab von der Anerkennung, die sie in der Merheitsgesellschaft zu- oder abgesprochen bekommt. Vielleicht ist etwa ein Saz-Konzert in dem Nachbarschafts-Zentrum, in das viele der langjährigen Bewohner*innen gehen, viel virtuoser als der Singer-Songwriter-Contest in einer hippen Bar. Aber letzteres passt eher in das vorherrschende Verständnis von Kultur. Und diese gesellschaftliche Anerkennung macht es zu kulturellem Kapital, dass sich viel leichter in ökonomisches Kapital ummünzen lässt. Was jeweils „verwertbar“ ist, ist allerdings nicht statisch und wird unter anderem von den Konjunkturen des Kunst- und Kulturbetriebs beeinflusst. Der verleibt sich ständig neue oder vormals nicht kommerziell anerkannte Kulturproduktion ein und macht sie verwertbar. Die Berlin Art Week wirbt nicht zufällig damit, dass sie neben den kommerziellen und etablierten auch weniger bekannte Künstler* innen, Galerien und Orte vernetzt und für internationale Aufmerksamkeit erschließt. „Verwertbares“ kulturelles Kapital kann sowohl durch dauerhafte als auch durch temporäre Nutzung in Nachbarschaften eingebracht werden. Oft führt das eine zum anderen. Untersuchungen haben gezeigt, wie im Neuköllner Reuterkiez gerade die vom Quartiersmanagement geförderte temporäre Nutzung von leer stehenden Ladengeschäften durch Kulturschaffende und subkulturell codierte Bars oder alternative Nutzungen den späteren Investitionen und Vedrängungsprozessen den Weg geebnet hat.

Welche Dynamiken entstehen, wenn dieses kulturelle Kapital in ein Viertel eingebracht wird?

Wenn sich solche (sub-)kulturellen Aktivitäten in einem Stadtteil wie Nordneukölln konzentrieren, wandelt sich das Image. Auch Medien labeln ihn oft zum Beispiel als „Szeneviertel“. Es findet eine symbolische Aufwertung dieses Ortes statt. Dabei geht das inkorporierte kulturelle Kapital, das an Personen geknüpft war, in ortsgebundenes kulturelles Kapital über, das dem Stadtteil zugemessen wird. Sogenanntes „real cultural capital“. Eine symbolische Aufwertung an sich würde noch niemanden verdrängen. Die Knackpunkte sind: Wer hat die Möglichkeit, dieses „real cultural capital“ eines Stadtteils in ökonomisches Kapital zu verwandeln? Durch welche Mechanismen? Wer oder was ermöglicht dies? – Und wer bezahlt dafür? Obwohl sie vielleicht am meisten kulturelles Kapital eingebracht haben, können Künstler* innen den Ruf des Stadtteils nur selten oder in geringem Maße zu Geld machen. Es sind vor allem Immobilienbesitzer* innen, Investor*innen oder bestimmte Gewerbetreibende, zu denen auch kommerzielle Galerien oder Events wie die Berlin Art Week gehören, die dieses „real cultural capital“ als Rendite abschöpfen können. Im Falle der Immobilieneigentümer*innen gibt es ganz verschiedene Strategien: Sie können die Miete auf das Niveau des Mietspiegels erhöhen, der ja leider meist nicht vor Verdrängung schützt. Sie können die Gebäude oder Wohnungen modernisieren und die Kosten anteilig auf die Miete umlegen - oder anschließend bei Neuvermietung Mieten weit oberhalb des Mietspiegel verlangen. Wenn die Nachfrage hoch genug ist, können Sie auch ohne große Investitionen große Mieterhöhungen bei Neuvermietung verlangen.Strategien wie diese haben in Nordneukölln zu einer Mietpreissteigerung von über 100 Prozent in den letzten zehn Jahren geführt. Eine Umwandlung in Eigentumswohnungen erzielt ebenfalls hohe und schnelle Gewinne – und lässt ehemalige Miet- zu Eigentumswohnungen oder Anlageoptionen für Gutverdienende oder Investmentfonds werden. Und das sind nur einige der legalen Strategien. Sie werden alle durch Gesetze ermöglicht. Die Politik ist kein machtloser Zuschauer eines Marktgeschehens. Staatliche Bestimmungen auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene ermöglichen oder regulieren all diese Möglichkeiten der Miet- oder Wertsteigerungen – und damit auch die Verdrängung von Menschen mit geringem Einkommen. Auch durch Maßnahmen wie die zuvor erwähnten Zwischennutzungsagenturen oder umstrittene Abschreibungs- und Förderprogramme für Investitionen in Gebäude ohne gleichzeitigen Mieter*innenschutz spielen staatliche Institutionen oft eine entscheidende Rolle dabei, dass (kulturelle) Aufwertungen erst möglich und Investitionen rentabel werden.

Die Kunst spielt also nur eine Rolle unter vielen?

Verdrängung kann auch ohne Kunst stattfinden. Gentrifizierung ist auch ohne die immobilienwirtschaftliche Verwertung von inkorporiertem und ortsgebundenem kulturellem Kapital möglich. Diese kann den Aufwertungsprozess aber beschleunigen und verschärfen. Wer also nur Künstler*innen oder hippen Bars die Schuld an Gentrifizierung gibt, verkennt nicht nur die Tragweite der Dynamik, sondern auch die wichtigsten Adressaten, Handlungsspielräume und Organisierungsperspektiven für tatsächliche Maßnahmen gegen Verdrängung: eine stärkere Organisierung der Mieter*innen, um eine wirksamere staatliche Regulierung des Wohnungsmarktes zu erreichen, eine Verwertungsgrenze, besseren Mieter*innenschutz und die (Wieder-) Schaffung eines großen gemeinwohlorientierten Wohnungsbestandes in der Stadt. Letzterer kann durch öffentliche, genossenschaftliche und/oder selbstverwaltete Trägerschaft am nachhaltigsten vor Privatisierung, Profitmaximierung und Verdrängung von Menschen mit geringem Einkommen schützen.

Können Künstler auch etwas gegen Gentrifizierung tun?

Ob Kulturarbeiter*innen vor allem zur Gentrifizierung beitragen, sich eher gegen die eigene Verdrängung wehren oder bewusst zur Organisierung mit anders aufgestellten Nachbar*innen beitragen, entscheidet sich unter anderem an ihrem jeweiligen Umgang mit ihrem kulturellen Kapital: Es ist wichtig, dass sie anerkennen, dass es meist andere Mieter*innen sind, die den höchsten Preis zahlen für das kulturelle Kapital, das zum Beispiel Künstler*innen einbringen und welches die Eigentümer*innen in Form von höheren Mieten oder Eigentumspreisen abschöpfen: Sie zahlen mit dem möglichen Verlust ihres Lebensumfelds oder mit einer sogenannten Verdrängung aus dem Lebensstandard in Form von Wohnungsüberbelegung oder Armut. Selbst wenn die Leute nicht umziehen, wird die Aufwertung für sie zum Problem. Kulturschaffende mit wenig Einkommen sind auch oft unter den Betroffenen.

Wie können sich Mieter*innen mit unterschiedlichen Ausgangssituationen wehren?

Untersuchungen zeigen: Je mehr soziales oder kulturelles Kapital Menschen haben, umso eher können sie ihre Rechte gegenüber ihren Vermieter*innen durchsetzen oder ihre Interessen medienwirksam darstellen. Etwa wenn sie komplizierte juristische Briefe oder Gesetzestexte verstehen können, vielleicht Anwält*innen im Bekanntenkreis haben oder wissen, wie sie mit der Presse sprechen. Menschen, die über das alles nicht verfügen und vielleicht obendrein noch diskriminierende Erfahrungen mit Behörden, Vermietern oder der Presse gemacht haben, stehen meist viel verletzlicher da. Tragischerweise nehmen Neuzuziehende mit mehr kulturellem Kapital jedoch die Realitäten der prekärsten Bestandsmieter* innen oft wenig wahr und schaffen durch kulturelle Distinktion noch mehr Distanz. Leider geschieht das auch oft ungewollt durch subkulturell abgrenzende Organisierungsformen in der stadtpolitischen Szene. Um solidarische Mieter*innen- und Stadtteilinitiativen mit ganz unterschiedlichen Nachbar*innen aufzubauen, gilt es also, einiges davon zu ändern. Die Erfahrungen vieler Mieter*innen-Inis haben gezeigt: sich gegenseitig kennenzulernen und zu unterstützen, sich zwischendurch mal zu befremden und mal zu befreunden, sind notwendige Grundlagen, um gemeinsame Handlungsperspektiven zu entwickeln, die auch die verletzlichsten Realitäten und Stimmen beinhalten. In diesen Zusammenhängen können dann kulturelles Kapital oder besondere Erfahrungen in Gestaltung oder Konzeption wichtige Ressourcen werden, die in den Dienst aller Nachbar*innen gestellt werden können. Gleichzeitig ist es zentral, ganz unterschiedliche Talente und Beiträge der Nachbar*innen in den Protest einzuladen und anzuerkennen. Denn viele Mieter*innen- Inis haben sich zwei große Ziele gesetzt: die Auseinandersetzung mit Vermieter*innen und Politik zu führen, um das Recht auf Stadt für alle zu gewährleisten. Und eine Kultur und Nachbarschaft zu leben, in der Unterschiede nicht zueinander in Konkurrenz gesetzt, sondern zur Stärke werden.

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Geschrieben von

Isabella Caldart

Journalistin. Lektorin. Bloggerin. Flaneur.

Isabella Caldart

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