Die türkischen Nationalist*innen sind nach einer Reihe gewaltsamer Angriffe auf Kurd*innen und Armenier*innen und dem darauffolgenden Verbot der türkisch-nationalistischen „Grauen Wölfe“ in Frankreich wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Zuvor hatte es bereits Ende Juni 2020 in Wien tagelange Angriffe von türkischen Nationalist*innen auf Kurd*innen und solidarische Linke gegeben, die Debatten über mögliche politische Maßnahmen gegen die „Grauen Wölfe“ und ähnliche Gruppierungen auslösten.
Inzwischen fordern die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, Grüne und FDP in einem gemeinsamen Antrag, dass die „Grauen Wölfe“ auch in Deutschland verboten werden sollen. Dabei beziehen sich die deutschen Politiker*innen auf die Vorgehensweise Frankreichs. Allerdings ist bisher eine intensivere und tiefergehende Beschäftigung mit dem türkischen Nationalismus weitestgehend ausgeblieben. Einer der unterbelichteten Aspekte ist die Frage nach der aktuellen Ideologie der türkischen Nationalist*innen in Deutschland und die Frage danach, für welche Bevölkerungsgruppen die türkische Nationalist*innen ganz real eine Gefahr darstellen.
Die türkische „Dolchstoßlegende“
Der Entstehung des türkischen Nationalismus geht auf die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zurück, als das Osmanische Reich sich in einer Zerfallsphase befand und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs gleiche Rechte als gleichberechtigte Staatsbürger einforderten oder eigene Nationalstaaten gründet. Als Reaktion darauf entstand innerhalb der osmanischen Staatselite die „Jungtürken“-Bewegung. Die „Jungtürken“ zielten darauf, das Osmanische Reich in einen türkischen Staat umzuformen. Sie setzten auf die türkisch-muslimische Bevölkerungsgruppe als die „Herrschernation“.
Dies bedeutete zum einen die Assimilierung und „Türkisierung“ der muslimischen Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig die Exklusion und Vernichtung derjenigen Bevölkerungsgruppen, die als feindlich und nicht-türkisierbar definiert wurden. Dies betraf insbesondere die Armenier*innen, die durch den jungtürkischen Genozid 1915 vernichtet werden sollten. Aber die „Jungtürken“ beschränkten sich nicht auf die ethnische und religiöse Homogenisierung der bisherigen Herrschaftsgebiete, sondern zielten langfristig auf die Errichtung eines großtürkischen Herrschaftsgebildes von China bis Mitteleuropa ab, genannt Turan.
Der so entstandene türkische Nationalismus beinhaltete von Beginn an eine Feindschaft gegenüber den nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen – dem „inneren Feind“ – und dem Westen – dem „äußeren Feind“. Diese Feindbilder wurden immer wieder eingesetzt. So wurde etwa die Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg von den „Jungtürken“ den „inneren“ und „äußeren“ Feinden zugeschrieben, die sich gemeinsam gegen die türkische Nation verschworen hätten.Diese türkische „Dolchstoßlegende“ diente sowohl der nachträglichen Legitimierung für den Genozids von 1915 als auch für die feindselige Politik gegen die überlebenden Armenier in der heutigen Türkei.
„Eine Nation, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat“
Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden die „Jungtürken“ gestürzt, und eine neue türkisch-nationalistische Bewegung unter der Führung von Mustafa Kemal schaffte es, durch massive Gewalt gegen nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen auf dem Restgebiet des Osmanischen Reiches 1923 einen türkischen Nationalstaat zu etablieren. Der Kemalismus, wie die neue Staatsideologie genannt wurde, nahm Abstand davon, die turanistischen Utopien der Jungtürken militärisch durchsetzen zu wollen, und zielte auf die Türkisierung der Türkei.
Aber das bedeutete keine Abkehr von den grundsätzlichen Vorstellungen der Jungtürken. Die Diskurse um „innere“ und „ äußere“ Feinde wurden ebenso weiter reproduziert wie auch die Vorstellung, dass die türkische Nation eine welthistorische Mission hätte. Mit der Konzentrierung auf die Türkisierung der Türkei selbst gewann die Rede über die „inneren“ Feinde an Relevanz. Hier gerieten die türkischen Juden stärker ins Visier der Nationalist*innen. Die Pflege einer eigenen Sprache und Kultur wurde als Verweigerung gegenüber der staatlich erwünschten Assimilierung in die türkische Nationalkultur gelesen und ihnen zum Vorwurf gemacht.
In den späteren Jahren, als die Türkei immer autokratischer wurde und schließlich im Zweiten Weltkrieg gegenüber den NS-Regimes eine wohlwollende Politik verfolgte, konnte sich der offene Antisemitismus in der türkischen Öffentlichkeit ausbreiten. Die türkische Staatsführung nutzte diese Stimmung, um Juden und Christen als „Blutsauger“ an der türkischen Nation zu verunglimpfen und 1942 ihr Eigentum weitgehend zu beschlagnahmen.
Eine Besonderheit des türkischen Antisemitismus ist die Verschwörungstheorie um die sogenannten „Dönme“, eine kleine kryptojüdische Bevölkerungsgruppe, die von den Antisemiten als die Drahtzieher hinter Politik und Medien verdächtigt wird. Antisemit*innen können so ihren politischen Gegnern unterstellen, dass sie insgeheim Juden seien – selbst wenn diese Gegner offen praktizierende Muslime sind.
Die „Grauen Wölfe“
In den 1930er und 1940er Jahre entwickelte sich ebenfalls die rechtsextreme Variante des türkischen Nationalismus, die in Deutschland mit der „Graue Wölfe“-Bewegung bekannt geworden ist. Die Unterschiede zwischen den kemalistischen staatstragenden Nationalismus und der rechtsextremen Variante lassen sich auf zwei Punkte reduzieren: die Frage nach dem legitimen politischen Akteur und die Haltung gegenüber dem Turanismus.
Während für die Kemalisten der Staat der einzig legitime Akteur ist, der die Ziele des türkischen Nationalismus durchsetzen kann, war für die rechtsextremen Herausforderer die staatliche Politik oft nicht radikal und konsequent genug. Deswegen formierten sie eine eigene politische Bewegung, die auch auf der Straße unmittelbar gegen politische GegnerInnen vorging. Der zweite Aspekt lässt sich ebenfalls in diesem „Radikaler als der Staat es sein kann“-Paradigma fassen.
Während die Türkische Republik öffentlich Abstand von großtürkischen Träumen nahm aber durchaus die turanistischen Geschichtsmythen weiter pflegte, forderten die Rechtsextremen öffentlich eine Wiederaufstehung des Turans. Das Verhältnis des türkischen Staates und der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ ist jedenfalls so zu kennzeichnen, dass die ideologischen Grundlagen und die politischen Fernziele durchaus übereinstimmen, die Differenzen hauptsächlich in den Methoden und der Frage der Radikalität bestehen.
Dieses Verhältnis zwischen den staatstragenden Nationalismus und der rechtsextremen Variante hat sich über die Jahrzehnte immer wieder manifestiert. So etwa als im Sommer 2015 die AKP-Regierung in der Türkei den Krieg in den kurdischen Gebieten wiederaufnahm. Die rechtsextreme MHP, die die parlamentarische Vertretung der „Grauen Wölfe“ ist, hatte zunächst die AKP-Regierung wegen ihrer moderaten Haltung in der Kurdenfrage kritisiert, näherte sich der AKP aber an, als die Regierung selbst radikal und brutal gegen die Kurden vorging. Insbesondere in den Spezialeinheiten von Armee, Polizei und Gendarmerie, denen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, sind viele „Graue Wölfe“.
Auch anhand der Entwicklungen in der türkischen Community in Deutschland lässt sich dieses Zusammengehen von Staat und dessen rechtsextremen Wegbegleitern gut aufzeigen. Als nach dem Militärputsch 1980 die Machthaber gegen linke Weltanschauungen auf eine islamisch-konservative Wende in der türkischen Gesellschaft und in den türkischen Communities im Ausland setzten, bedeutete dies nicht nur eine Re-Islamisierung – etwa durch die Gründung von religiösen Schulen und die Gründung von Islamverbänden wie etwa DITIB –, sondern auch das Erstarken von rechtsextremen Islamverbänden in Deutschland wie etwa der Türk Federasyon, die den „Grauen Wölfen“ nahesteht. Die staatlich geförderte Re-Islamisierung ab 1980 versöhnte die „Grauen Wölfe“, die zuvor teilweise eher neuheidnische Vorstellungen anhingen, endgültig mit dem Islam als einem Teil der türkischen Nationalkultur.
Feinde und Verschwörungen
In seiner aktuellen Ausprägung lässt sich im türkischen Nationalismus folgende Grunderzählungen ausmachen: Ausgehend von einer vermeintlich welthistorischen Bedeutung des Türkentums wird die reale Situation der Türkei und der türkischen Nation stets als mangelhaft und defizitär definiert. Die Ursachen für diese Mängel und Defizite können a priori nicht in der türkischen Nation selbst liegen, sondern müssen die Schuld von „inneren“ und „äußeren“ Feinden sein. So müssen stets diese Feinde und ihre Verschwörungen gegen die türkische Nation entdeckt, entlarvt und bekämpft werden.
Diese nationalistische Erzählung produziert verschiedene Feindbilder, die auch für türkische Nationalist*innen in Deutschland relevant sind. So wird die nicht-muslimische Außenwelt generell feindselig betrachtet. Stärker im Visier stehen allerdings diejenigen Akteure, die gewissermaßen von „innen“ das Türkentum bedrohen: Kurd*innen aus der Türkei, die sich nicht der türkisch-muslimischen Identität anschließen wollen und „türkeistämmige“ Nicht-Muslime, die die türkischen Nationalist*innen daran erinnern, dass ihre Erzählung einer homogenen türkischen Nation ein Trugbild darstellt. Die politischen Gegner der türkischen Nationalist*innen kommen erst danach ins Visier und überhaupt erst dann ins Spiel, wenn sie sich gegen diese türkisch-nationalistische Grunderzählung aussprechen.
Ismail Küpeli arbeitet in Duisburg als Politikwissenschaftler und freier Autor
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