60 Jahre feindliche Übernahme

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Als ich meinen Mann kennlernte – lang, lang ist’s her – nahm der mich mit auf eine Party. Ich bin geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet und war es gewohnt, dass man an den anderen sprachlich zwar einer bestimmten Stadt, zuweilen auch einem bestimmten Stadtteil, zuordnen konnte, ihn aber verstand. Das Ruhrgebiet hatte keinen Dialekt, wohl eine sprachliche Färbung, derer sich seinerzeit man aber eher schämte (Tegtmeier kam grade erst).

Nun also Party im Badischen. Nun ja. Am Ende der Party wusste ich zwar ziemlich gut, wer mit wem was hatte, wer das nicht wissen sollte und wo sich was anbahnte. Worüber sich die Leute aber unterhalten hatten, das wusste ich nicht. Ich hatte kein Wort verstanden, mitten in Deutschland – Stummfilm mit Geräusch!

Gut erinnere ich mich noch daran, wie erstaunt ich damals war. Ja, Plattdeutsch kannte ich, meine Oma konnte das noch. Die Dialekte erlebten grade erst ihre Neuentdeckung. Aber das waren junge Menschen meines Alters, die ganz selbstverständlich Dialekt sprachen.

Nun lebe ich seit ein paar Jahren in Südbaden und die Sprache macht mir keine allzu großen Probleme mehr. Dialekt wird hier ganz selbstverständlich gesprochen und selbst beim Versuch, hochdeutsch zu sprechen, hört man immer noch, woher ein Mensch kommt.

Das erste, was ich lernte war das Badnerlied und dass der Schwabe an sich der natürliche Feind des Badners ist, Fastnacht ist nicht Karneval und das Elsass ist "uns" näher als Stuttgart.

Baden-Württemberg wird dieser Tag 60 Jahre alt und nicht alle feiern das. Stets schaut der ein oder andre Badner nach, was alles für „die Schwobe“ getan wird und was alles in Baden zu tun wäre.

Auch der Mann meines Herzen – Abkömmling eines „kleinen diebischen Bergvolkes“ ist so ein Badner, der immer noch, wenn er ein Knöllchen bekommt unter Verwendungszweck schreibt „zum Aufbau des Großherzogtums Baden“. Grantig murmelt er beim Bericht über den Besuch des Bundespräsidenten in Stuttgart, dass dieser nach Württemberg, nicht aber nach Baden gekommen sei und meint erbost: „60 Jahre feindliche Übernahme – da gibt es nichts zu feiern!“

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Geschrieben von

Ismene

Kein Mensch ist freiwillig schlecht.Aber es sind schon viele ganz komisch unterwegs.antigone@weibsvolk.org

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