Wir treffen uns zufällig, im Supermarkt, ein Wort gibt das andere, wir sind schon eine Weile befreundet und flachsen so. Die eher beiläufig gestellte Frage nach einer schon länger nicht mehr gesehenen Bekannten fördert die Antwort zu Tage: "Es geht ihr nicht gut. Der Mann ist an Krebs erkrankt. Ziemlich schlimm, es gibt schon Metastasen." Ich bin schockiert. Metastasen, das heiß sterben, weiß doch jeder. Scheiße. Warum gerade er? Und dann haben die noch fünf Kinder, das muss man erst mal stemmen. Natürlich will ich helfen/unterstützen "Was kann ich tun?" - eine ziemich normale Reaktion. Ebenso normal, erwartbar kommt die Antwort "Nichts, es ist alles geregelt." Ungewöhnlich ist allein der Nachsatz "Aber wir treffen uns einmal in der Woche, um für den Mann und die Familie zu beten. Du kannst dazu kommen. Jeder gute Gedanke hilft."
Schluck. Zusammenkommen und beten - daran hätte ich bestimmt nicht gedacht. Das kenne ich noch von ganz früher. Wenn da jemand im Sterben lag, sind die Nachbarn immer hin gegangen zum "Todbeten". Das klingt zwar schrecklich, war aber nichts anderes als die Begleitung eines Sterbenden buchstablich in den letzten Studen, verteilt auf viele Schultern.
Na gut, ich werde mich darauf mal einlassen und bin zur verabredeten Zeit zur Stelle. Da treffen sich einige Frauen mittleren Alters. Wir sitzen zusammen und reden - über den Verlauf der Krankheit und das Befinden, die Familie, was ansteht, was getan werden muss. Und dann beten wir. Eine Mischung aus - z.T. sehr alten - formelhaften Gebeten und persönlich Formulierten Wünschen und Hoffnungen. Jede betet auf ihre Art, spricht das eine mit, lässt das andere weg - es gibt keine "Vereinheitlichung", außer der Sorge dem Wohlwollen für die Famile der Erkrankten. Es fühlt sich sonderbar an, aber nicht schlecht.
Nach etwa einer halben Stunde trennen wir uns wieder. Es ist irgendwie alles gesagt. Über die Frage der Wirkung mögen Gläubige mit Nicht-Gläubigen streiten, eines aber hat sich für mich gezeigt: Beten hilft. Und zwar gegen die eigene Hilflosigkeit. Vielleicht nicht jedem, aber diesem kleinen Kreis gewiss.
Kommentare 17
Ich bin alt, lieber doimlinque,
und ich habe hoffentlich keinen missionarischen Eindruck gemacht. Glücklicherweise leben wir in Zeiten, in denen jeder für sich den eigenen Weg finden kann. Dieser ist eben einer von vielen...
Liebe Grüße
Ismene
Liebe ISMENE,
zunächst vielen Dank für Deinen Beitrag, der natürlich nicht für jedermann leicht verdaulich ist. Er berührt. Es kann jeden treffen. Und dies von heut auf morgen. Der Mensch neigt zum Verdrängen. Keiner wird gerne daran erinnert, dass man selbst erkranken könnte oder ein geliebtes Familienmitglied. Meistens trennt sich dann die Spreu vom Weizen, da ja so ein medizinischer Verlauf auch sichtbares Leid zeigen kann. Oftmals auch von Familienangehörigen, die mit der Situation überfordert sind. Echte Freunde bleiben zurück und stärken, geben Kraft. Neue Freundschaften können Hoffnung bieten und ein Stück Normalität. Beten und dies in ganz individueller Form kann absolut helfen und man sagt ja nicht umsonst, dass der Glaube Berge versetzen kann. Allerdings muss man nicht selten der Realität ins traurige Auge sehen und sich eingestehen, dass die Krebszellen mächtiger als der Glaube sind. Dies führt manchmal zu starken Gewissenskonflikten bei gläubigen Menschen, auch dann, wenn zum Beispiel Kinder vor den Eltern sterben.
Es kommt wohl auch sicherlich stets auf den Inhalt des Gebetes an. Wenn jemand sehr krank ist und starke Schmerzen hat, dann wird man wohl auch dafür beten, dass die geliebte Person nicht mehr länger leiden muss und von den Qualen erlöst wird. Kleine Wunder werden oftmals von Betroffenen erwartet. Manchmal gibt es diese wirklich, wenn z.B. eine neue Therapieform anschlägt, aber man muss dabei stets bedenken: „Wir sind nur Gast auf Erden ...“
Deshalb sollte man eigentlich das Leben genießen, denn man kann sich nie sicher sein …
… und dann hilft gegebenenfalls auch kein beten mehr für jene Menschen, die es regelmäßig oder noch nie getan haben.
Herzliche Grüße
Corina
Liebe Corina,
beten anstatt zum Arzt zu gehen ist mehr als fahrlässig und - wenn es nicht allein die eigene Person betirfft - ein Verbrechen. Mir geht es auch nicht um die Frage, ob ein Gebet einem Kranken hilft gesund zu werden - Du hast das ja recht klar beschrieben -, mir ging es darum, das es denen helfen kann, die beten, mit ihren eigenen Ohnmachtsgefühlen besser umzugehen.
Denn letztendlich wissen wir ja - Gott (naja) sei Dank - nie, wie etwas ausgeht, wenn wir uns anders verhalten.
Es ist ein bisschen wie mit der Körpersprache - die wirkt auch stärker nach innen als nach außen...
Liebe Grüße
Ismene
Lieber doimlinque,
bei den Katholen braucht's nur ein bisschen Wasser und Chrisam (und das nicht unbedingt), das reicht. Aber: wenn Du einmal dazu gehörst, dann biste auch dabei (also für die Katholen, kann Dir ja egal sein).
Was meinen missionarischen Eifer angeht, so solltest Du mich erstmal sonntags von der Kanzel geifern hören...
Beten allerdings, hat noch immer so ein bisschen eine peinliche Seite, etwas, was man vielleicht macht, aber nicht gern zugibt. Allerdings glaube ich, dass ziemlich viele Menschen, auf Gebete zurückgreifen, wenn's brenzlig wird. Das finde ich aber auch in Ordnung so. Viele Funktionen, die das Beten mal hatte, sind einfach überholt.
Liebe Grüße
Ismene
Vielen Dank für diesen Beitrag in diesem von Atheisten und Agnostikern doch geprägten Forum.
Wenn ich mir überlege, wieviel Energie viele Leute aufbringen, um anderen etwas Schlechtes zu wünschen oder zu tun, wundert es mich, warum das Beten, was nichts anderes ist, als gute Gedanken auf den Weg bringen, so stigmatisiert ist. "Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität." (Thomas Metzinger)
Liebe ISMENE,
da bin ich ganz Deiner Meinung, das Beten bei der Mehrzahl von Menschen helfen kann, wenn diese eine schwierige Phase durchmachen. Es kommt immer darauf an, welche Wortwahl, welche Gedanken man in solch ein Gebet einfließen lässt. Auch Menschen, die nicht gläubig sind, können dies als Bereicherung annehmen.
Liebe Grüße
Corina
Vielleicht noch dies zur Ergänzung. Ich schrieb es unlängst hier in einem anderen Zusammenhang. Ich bin der Ansicht, es paßt auch hierhin:
Bedenken sollte man, daß wahrhaften Geisteswissenschaft - im Sinne von Bewußtmachung des Menschentums - nicht bloß dazu da ist, um ein Wissen zu sammeln.
Ob man schließlich irgend etwas rein gedankenmäßig weiß, oder ob man sich ein Kochbuch nimmt und das, was im Kochbuch steht, nur gedanklich nebeneinanderstellt, das ist einerlei; da ist das eine ist nicht wertvoller als das andere. Wirkliche Geisteswissenschaft im obigen Sinn, muß als Wissen übergehen in die menschliche Seele, aber man darf dieses Wissen nicht verwechseln mit dem stumpfen, dumpfen mystischen Gefühl. Das hat schon auch Ennemoser* sehr richtig in einem Aufsatz gesagt, was da sein soll, wenn er schreibt: «Wie die Freiheit sich innerhalb der Gesetze, der Gerechtigkeit bewegen soll, so muß die Religion mit dem Lichte de Wissenschaft eine erleuchtete Wahrheit werden.» Aber die Mensche wollen heute das religiöse Gefühl nicht durchleuchten mit Geisteswissenschaft, sondern sie möchten punktuell in einem mystischen Gefühl eine abstrakte Göttlichkeit haben.
[ *) Dr. Josepf Ennemoser, „Das Horoskop in der Weltgeschichte“, München 1860, Druck und Verlag von Georg Franz]
@doimlinque
Ha, was wird das hier, ein Wettlauf gegen die Zeit? Sei vorsichtig, wenn Du Ismene des Alt-Seins zichtigst, ich bin vermutlich noch älter und nicht so milde wie sie!
@ Ismene
Obwohl mir beten sehr fremd ist, enmpfinde ich Euren Willen, helfen zu wollen, als das Ausschlaggebende und wenn sonst keine Hilfe möglich und machbar ist, ist auch dies eine schöne Geste, die sicherlich willkommen war. Gern gelesen!
Liebe Grüße an Euch beide, Diander
Danke für die Ergänzung. Mein Zitat stammt aus: http://www.meditation-wissenschaft.org/images/stories/folien2010/Metzinger_Redlichkeit.pdf
@Ismene
Mich hat der Beitrag berührt. Keiner wird ja zum Beten gezwungen.
Es ist aber sehr herzergreifend zu lesen, dass Sterbende so begleitet werden können.
Ich finde nicht, dass Beten und "irgendwie links" sein ein Widerspruch ist,-auch wenn dies jetzt nicht direkt im Zusammenhang mit Deinem Blog steht!
In meinenen Augen ist es vielmehr die ideale Ergänzung!
Danke für das Blog.
Liebe Grüße
por
Guten Morgen,
danke an alle für die Kommentare. Eines will ich ergänzen/klarstellen.
Der Mann, um den es ging, liegt nicht im Sterben und es besteht durchaus berechtigte Hoffnung auf Heilung.
Ansonsten antworte ich auf einzelne Beiträge, damit es nicht so unübersichtlich wird.
Liebe Grüße
Ismene
LIeber Janto Ban,
eigenlich gehört es sich ja nicht, ungefragt zu raten. Ich tue es trotzdem, weil mich Deine Situation mit Deinem Vater sehr berührt. Mein Vater ist vor mehr als zehn Jahren gestorben.
Wir mussten nie darüber reden, dass er sterben würde, wir wussten es beide und wir wussten auch, dass der andere es weiß. Für uns beide war es gut, dass ich einfach da war. Irgendwann hat mein Vater dann die Dinge gesagt, die noch zu sagen waren. Da sein, ist - davon bin ich fest überzeugt - das wichtigste, was man tun kann.
Allerdings habe ich auch festgestellt, dass es bei mir Themen gibt, die ich mit ihm nicht klären konnte. Seine Sicht darauf war einfach eine andere. Das war anfangs schmerzhaft, aber jetzt ist es in Ordnung.
Genieße die Weihnachtstage mit Deinem Vater - das wirst Du vielleicht dieses Jahr ganz besonders intensiv tun. Ich wünsche Dir eine sehr gute Zeit mit ihm.
Ismene
Lieber doimlinque,
ich muss Dich leider enttäuschen. Ich war gar nicht so beschäftigt wie Du (meine Projekte sind derzeit ja auch etwas kleiner als Dein großer Brocken) und mein Frust war auch nur von kurzer Dauer. Ich hatte schon in der letzten Woche zwei Blogs eingestellt.
Trotzdem ist das eine witzige zeitliche Übereinstimmung...
Liebe Grüße
Ismene
Hallo doimlinque,
Es hat also doch wohl etwas mit dem Glauben zu tun, Ismene und ihre Runde haben ja wohl auch nicht irgendwelche Gebete gesprochen, sondern christlich konnotierte, wenn ich das richtig sehe
Das siehst Du völlig richtig. Wir stehen in einer christlichen Tradition (auch wenn die nicht immer rühmlich ist). Es ist aber eben diese Tradition, die einem manchmal Halt geben kann, wenn man sich ihrer bewusst wir.
Beten kann übrigens auch danken heißen. Und beides hat einen persönlichen Adressaten. Allerdings kennen wir auch eine ganze Menge - ich sag mal - "ungerichteter" Gebete. Die sind übrigen recht oft ganz naiv im Sinne von "mach, dass...". Von den traditionellen Dankgebeten hat sich das mittlerweile floskenhafte "Gottseidank" noch erhalten.
Liebe Grüße
Ismene
Lieber Janto Ban,
ich kann Dich gut verstehen. Mir geht es mit meiner Mutter so. Manches werden wir nicht mehr klären und einiges davon werde ich auch nicht verzeihen.
Eine Zeit lang habe ich mich damit gerettet, dass ich versucht habe, es zu verstehen. Das ging auch, wenn ich von ihrer Sicht ausging. Der Grundgedanke war dabei immer der, sie hätte in der jeweiligen Situation nicht anders gekonnt. Das hat natürlich nicht gestimmt, darum hat das auch nie so richtig funktioniert.
Heute hilft mir der Gedanke, dass alles Schmerzhafte nicht in böser Absicht geschehen ist.
Aber auch mir geht es wie Dir - der Abstand macht alles leichter.
Eins ist mir noch wichtig: der Versuch ist wichtig, gerade weil es (noch) etwas ungelenk ist, braucht es vielleicht auch Überwindung und Mut dafür. Das und das Da-sein sind wertvoll für Euch beide.
Auch Dir ein kuscheliges Wochenende. Meins ist voll, aber das habe ich so gewählt und das gefällt mir auch.
Liebe Grüße
Ismene
Unsere Erfahrungen mit Vätern scheinen sich zu ähneln, Janto.
"...Unser Verhältnis war lange Zeit sehr schlecht und hat sich erst mit dem Abstand zum Elternhaus langsam gebessert..."
Meines zu meinem Vater ist immer noch schlecht. Bzw eigentlich gar nicht da. Seit 18 Jahren kein Wort.
"...Ich spüre, dass der Tod meines Vaters eine gewichtige Marke in meinem Leben darstellen wird...."
Trotzdem wird es mir auch so gehen. Diese Endgültigkeit kann einem schon Angst machen.
"...Ich muss und will verzeihen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen und ich bereite mich darauf vor, dass er das nie sein wird..."
Ja das will ich auch, aber den ersten Schritt wieder in diese Richtung, dieser Ruck fehlt mir noch.
Für jedes neue Jahr nehme ich mir vor, das Verhältnis zu klären, und jedes Mal merke ich, ich kann es nicht.
Vielen Dank, Ismene für diese sehr nachdenklich machende Geschichte.
"...Beten hilft. Und zwar gegen die eigene Hilflosigkeit..."
Ein schönes Resümee des Ganzen !