Seit Jahren tourt Nirit Sommerfeld mit ihrem Musikprogramm durch Deutschland. Mit ihrer Klezmer-Band präsentiert sie deutsche und jiddische Lieder. Sie singt über die Reichspogromnacht, die Sehnsucht nach Israel oder Hanukkahfeiern in der Diaspora. Jahrelang war die 59-jährige in Israel geborene und in Deutschland aufgewachsene Sängerin der Liebling der jüdischen Gemeinde ihrer Heimatstadt München. Doch als sie vor zwei Jahren einen Antrag auf öffentliche Förderung ihrer Show stellte, gaben sich die sonst so freundlichen Mitarbeiter*innen der Münchener Kulturverwaltung plötzlich zugeknöpft. Sie ließen sich Zeit mit der Entscheidung. Schließlich meldeten sie sich und fragten an, ob die Künstlerin bereit wäre, ihre Texte vorab einzureichen: „Dann könnte man hier und da noch etwas ändern?“ – Sommerfeld war geschockt. „Wollen Sie mich zensieren?“, entgegnete sie empört. Ihr Finanzierungswunsch wurde abgelehnt.
2019 mietete Sommerfeld einen Club, um den 20. Geburtstag ihrer Band mit einem Konzert zu feiern. Daraufhin schickte der Eigner ein offizielles Schreiben mit der Bitte, „schriftlich zu bestätigen, dass im Rahmen dieser Veranstaltung keine antisemitischen Inhalte geäußert werden“ würden. Ohne eine solche Bestätigung müsse der Club die Show leider absagen. Sommerfelds Antwort fiel heftig aus: „Seit zehn Jahren spielen wir ein Programm namens Jiddische Weihnachten, das meinen im KZ ermordeten Großvater im Zentrum des Geschehens trägt“, schrieb sie und ergänzte in fetten Lettern: „Darf ich daran erinnern, dass er in Sachsenhausen von Antisemiten ermordet wurde?“
Für Nirit Sommerfelds Schwierigkeiten gibt es Gründe: Ihr Engagement gegen die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete und ihre öffentliche Kritik an Israel sind der jüdischen Gemeinde in München schon lange ein Dorn im Auge. Durch wiederholte Beschwerden bei den Behörden machen deren Mitglieder es ihr zunehmend schwer, aufzutreten.
Zwar erregte der Fall der Münchener Künstlerin nur regional Aufsehen, doch ist er einer von vielen. Deutschlandweit werden drastische Maßnahmen ergriffen, gegen Einzelpersonen, Organisationen oder Veranstaltungen, die anti-israelisch agieren – oder denen dies unterstellt wird.
Die Bundestags-Resolution
Im Zentrum der Kampagnen steht eine im Mai 2019 verabschiedete Resolution des Deutschen Bundestages. Getragen von einer großen Mehrheit konstatiert diese, dass die den Boykott Israels fordernde Bewegung BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen) antisemitisch sei. In seinem nicht-bindenden Beschluss ruft das Parlament die Regierung daher auf, keine „Projekte [zu fördern], die den Boykott Israels fordern oder BDS aktiv unterstützen“.
Trotz des breiten Konsenses im Parlament war die Verabschiedung der Resolution von Kontroversen geprägt. Knapp einhundert Mitglieder des Bundestages, die dem Beschluss zugestimmt hatten, publizierten persönliche Erklärungen, in denen sie sich besorgt zeigten, dass hier die Meinungsfreiheit und die Möglichkeit, Kritik an der Politik Israels zu üben, beschränkt würden. 240 jüdische und israelische Intellektuelle stellten sich explizit gegen das parlamentarische Statement.
Heute sehen viele bestätigt, was sie vor anderthalb Jahren befürchteten. Weite Kreise in Deutschland sind aufgebracht angesichts der in ihren Augen häufig überzogenen Antisemitismusvorwürfe und der BDS-„Schublade“, mit der die Kritik an der israelischen Politik gedeckelt werden soll. Viele klagen über ein mittlerweile vergiftetes Klima der Angst, Bedrohung und Zensur.
Im Laufe dieses Jahres trafen sich die Leiter*innen wichtiger deutscher Kultureinrichtungen monatlich – und geheim –, um sich über die aktuelle Lage auszutauschen. Für sie geht es um nichts weniger als die Demokratie im Land und die Freiheit des künstlerischen und akademischen Ausdrucks. Sie diskutierten leidenschaftlich und manchmal bis spät in die Nacht. Dank der Vertraulichkeit und der Zusammenarbeit der Direktoren sowie der breiten Rückendeckung durch die von ihnen geleiteten Einrichtungen, hatten die Teilnehmer zum ersten Mal Gelegenheit, sich frei zum Thema zu äußern.
Über 25 Institutionen tragen die Initiative, darunter das Goethe Institut, die Bundeskulturstiftung, das Deutsche Theater Berlin, der DAAD, die Berliner Festspiele (Trägerin mehrerer Festivals für darstellende Künste), das Einstein Forum (unter der Leitung der jüdisch-amerikanischen Philosophin Susan Neiman) und zahlreiche andere wichtige Vertreter*innen des Kultur-Establishments. Gemeinsam bilden sie einen hochrangigen Zirkel, dessen Einfluss auf die deutsche Kulturszene nicht zu unterschätzen ist.
Diverses Spektrum
Auf einer monatelang diskret geplanten Pressekonferenz sprach sich die Gruppe vergangene Woche gegen die Gefahr aus, die der Bundestagsbeschluss in ihren Augen darstellt. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es, dass „durch die missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt“ werden. Als Personen, die in der künstlerischen und intellektuellen Szene Deutschlands an vorderster Front stehen, sind sie überzeugt, dass die Angst vor BDS ihren Aktionsradius massiv beschneidet und die Meinungsfreiheit in den von ihnen geleiteten Institutionen einschränkt.
Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sich ein breites, diverses Spektrum einflussreicher Vertreter*innen der Kulturszene zusammentut, um sich gemeinsam zum sensibelsten Thema auf der deutschen Agenda zu äußern: der Kampf gegen Antisemitismus. Hier im Land stellt das nichts weniger als ein kulturelles Erdbeben dar.
Die Interviews, die die israelische Zeitung Haaretz mit mehreren Intellektuellen, Akademiker*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Politiker*innen und Leiter*innen von Kulturinstitutionen geführt hat, bestätigen den großen Einfluss, den der Bundestagsbeschluss auf alle Bereiche der deutschen Zivilgesellschaft schon heute hat. Ihre Ansichten verdeutlichen überdies, dass die Resolution und ihre Folgen – die viele als eine Politisierung des Kampfes gegen Antisemitismus deuten – genau diesen Kampf gefährden könnte.
Das Engagement der Kulturinstitutionen lässt sich nur verstehen, wenn man die Geschichte von Dr. Stefanie Carp kennt. Noch bis vor kurzem war Carp Intendantin der Ruhrtriennale. Das spektakuläre Festival – eines der renommiertesten Deutschlands – präsentiert Musik, Tanz, Theater, Performance und Bildende Kunst in den verlassenen Industriebauten des Ruhrgebiets. Nun lädt die charmante 64-Jährige den Journalisten zum Gespräch in ihr Apartment in Berlin. Bücherregale säumen die Wände, auf ihrem Schreibtisch ein großer Stapel gedruckter Seiten mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen.
Die „Mbembe-Frage“
Die Triennale sollte in diesem Jahr mit einem Vortrag von Achille Mbembe eröffnen. Als weltweit angesehener Intellektueller ist der Kameruner Philosoph der deutschen Kulturelite seit langem eng verbunden. Doch dann traf ihn der Vorwurf wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Es hieß, er sei ein verdeckter Antisemit. Ein Blogger aus der Region und ein FDP-Politiker übermittelten die Botschaft. Mbembe habe zehn Jahre zuvor eine Petition unterzeichnet, die zur Auflösung der Beziehungen zwischen der Universität Johannesburg und der Ben-Gurion-Universität in Be’er Sheva aufrief, da letztere eng mit der israelischen Armee verwoben sei. BDS begrüßte den Appell, der Bundestag betrachtet BDS als antisemitische Organisation – und damit ist Mbembe Antisemit. Die Ankläger würzten ihre Behauptung mit zwei knappen Zitaten, die sie in insgesamt neun Büchern des Beschuldigten fanden. Das erste stellt eine der wenigen Erwähnungen Israels in seinem Werk überhaupt dar und vergleicht eher beiläufig die israelische Besatzung mit Apartheid. Im zweiten Zitat geht es um den Holocaust als extremes Beispiel für „die Manifestation einer Trennungsfantasie“, womit Mbembe sich der „Relativierung des Holocaust“ verdächtig machte. Der Mann war markiert.
Rasch geriet die Sache außer Kontrolle. Die Medien stürzten sich mit seltener Intensität auf die „Mbembe-Frage“. Monatelang erschienen in allen wichtigen Blättern fast täglich Artikel zum Thema. Binnen kurzem stellte sich die Frage nach dem Antisemitismus des Philosophen als Frage nach dem Antisemitismus von Stefanie Carp. Denn sie hatte ihn eingeladen. Ein Journalist der Jerusalem Post forderte sie auf, zuzugeben, dass sie eine „moderne Antisemitin“ sei. Die Spirale drehte sich immer weiter, angetrieben allein von der Idee der Schuld durch Assoziation.
Es dauerte nicht lange, bis sich der deutsche Antisemitismusbeauftragte Dr. Felix Klein einschaltete. In den ersten Wochen intervenierte er bereits, die Einladung an Mbembe solle zurückgenommen werden. „Ich rief ihn an“, berichtet Carp. „Ich hatte den Eindruck, dass er selbst nicht eine Zeile von Mbembe gelesen hatte. Ich zitierte ihm ganze Seiten am Telefon – den Kontext der genannten Zitate. Er schwieg. Zunächst. Um dann zu sagen: ‚Mag sein. Ich glaube trotzdem, dass er Antisemit ist.‘“ Die Missbilligung war nun amtlich.
Härter kann ein Urteil kaum sein
Die moralische Verurteilung folgte. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, forderte die Ablösung der Intendantin der Ruhrtriennale. „Josef Schuster ist die höchste moralische Instanz im deutschen Schuldnarrativ. Wenn er sagt, dass jemand Antisemit ist und nicht als Künstlerische Leitung agieren sollte, dann kann man das nicht ignorieren,“ präzisiert Carp. „Ich war entsetzt“, fährt sie fort. – „Kennt er mich? Weiß er, wer ich bin? Weil ich einen Redner, einen Intellektuellen zu einem Festival einlud, den er nicht mag oder, so vermute ich, nicht kennt? Wie kann man, ohne nachzufragen, ohne das Gespräch zu suchen, so schnell über jemanden urteilen? Und dies ist das härteste Urteil, das man in Deutschland über jemanden fällen kann!“
Zum Glück für die Politiker*innen, die – durch die Bank – alles taten, um in dieser delikaten Frage nicht Stellung beziehen zu müssen, wurde die diesjährige Ruhrtriennale, die Ende des vergangenen Sommers hätte stattfinden sollen, wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Doch Carp hat keinen Zweifel an den wahren Gründen: Sie sind „Feiglinge“.
Carps Verteidigung Mbembes gegen alle negativen Reaktionen trieb sie selbst ins berufliche Aus. Ihr Vertrag als Intendantin der Ruhrtriennale endete vor zwei Monaten, und sie ist sicher, dass ihr niemand in Deutschland eine öffentliche Stelle anbieten wird. „Die Kolleg*innen wollen nicht mit mir oder in meiner Nähe gesehen werden“, berichtet sie. „Einige erklärten sogar, dass sie mit mir nicht einmal auf einem Podium sitzen wollten. Nicht, weil sie wirklich glauben, dass ich Antisemitin bin, sondern weil sie Angst um ihre eigene Karriere haben. Darunter sind Kolleg*innen, die ich sehr gut kenne.”
Viele, mit denen wir sprachen, bemerkten das unüberhörbare Schweigen der Kreise, die Mbembe und Carp in jener Zeit hätten verteidigen können. „Die Verunsicherung war so groß, dass niemand aus der Kultur- und Kunstszene Carp öffentlich beistand,“ sagt Dr. Bernd Scherer, Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, eines der wichtigsten Zentren für zeitgenössische Kunst in Deutschland.
„Es gab sehr viele, die ein Verständnis für ihre Situation hatten“, fährt er fort. „Ich weiß, dass etliche über die Sache sprachen. Doch niemand erhob öffentlich die Stimme. Und das darf nicht sein, dass man Sorge hat, als Antisemit bezeichnet zu werden, wo man gar nicht damit zu tun hat. Es besteht dann die Gefahr, dass sich in den Verwaltungen, in den Ministerien und in den Kultureinrichtungen ein Klima des Verdachts, der Unsicherheit und der Selbstzensur breit macht. Das muss verhindert werden.“
Völlig irritiert
Wir treffen uns in Scherers großem Büro im Haus der Kulturen, einem ikonischen Bau der Westberliner Moderne. „Ich war völlig irritiert vom Angriff auf Carp”, erinnert sich der Direktor des HKW, heute Veranstaltungsort für einzigartige Konzerte, Ausstellungen und Vorträge mit Teilnehmenden aus aller Welt. „Ich dachte, dass es, wenn es möglich ist, Achille Mbembe als Antisemiten zu bezeichnen und öffentliche Einrichtungen zu verpflichten, ihn nicht mehr einzuladen, auch viele andere bedeutende Denker*innen und Kunstschaffende gibt, auf deren Besuche wir verzichten müssten. Meine Kolleg*innen aus den anderen Kulturhäusern und ich stehen im ständigen Austausch, und so wurde schnell klar, dass wir alle das gleiche Problem haben, und dass sich die Frage überdies so grundlegend stellt, dass sie eine gemeinsame Antwort erfordert.“
Genau die gibt es nun. Nach der öffentlichen Erklärung, die die erste Phase des gemeinsamen Engagements markiert, soll eine Reihe von Veranstaltungen folgen. Die Initiator*innen gehen davon aus, dass sie für ihre Aktionen bundesweit Unterstützung in Organisationen und Institutionen finden werden. Scherer betont, wie die übrigen Direktor*innen, immer wieder, dass er gegen BDS ist. „Das darf jedoch nicht dazu führen, dass wichtige Akteur*innen aus der Diskussion ausgeschlossen werden. Die Antwort auf den Boykott kann nicht der Boykott sein.“
Gewiss, es gibt gute Gründe, sich angesichts des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland Sorgen zu machen. Die extreme Rechte ist auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft, sowohl politisch als auch, was die generelle Stimmung im Land angeht, und die Behörden melden in den vergangenen zwei Jahren einen signifikanten Anstieg von Angriffen auf Jüdinnen und Juden sowie auf jüdische Einrichtungen. Verschwörungstheorien fallen in der Coronakrise überdies auf fruchtbaren Boden, und einige von ihnen basieren auf den alten, antisemitischen Tropen von den Rothschilds, den Soroses und anderen „Juden, die die Welt beherrschen“. Die brutale Attacke eines Neonazis auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur 2019, die zwei Passanten das Leben kostete, zeigte mehr als deutlich, wie real die Gefahr ist.
Die Frage, die die Kritikerinnen und Kritiker der Bundestagsresolution umtreibt, ist, ob die Einbeziehung der Kritik an Israel in das Verständnis von Antisemitismus möglicherweise den Kampf gegen den Antisemitismus beeinträchtigt. Die Leichtigkeit, mit der diese Anschuldigung erhoben werden kann, drohe, den Begriff inhaltlich zu entleeren.
Kritik an Felix Klein
Aus exakt diesem Grund verfassten einige israelische und deutsche Wissenschaftler*innen im Juli 2019 einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie beklagten den „inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs“ und konstatierten, dass dieser die „Aufmerksamkeit von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen ab[lenkt], die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden.“ Die Kritik richtete sich in erster Linie an den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein.
Nach Kleins Intervention in der Sache Mbembe forderten eine Gruppe von 37 Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, die meisten von ihnen aus Israel und dort mit der Linken identifiziert, aber auch von einer Reihe renommierter internationaler Institutionen im vergangenen April in einem Schreiben an den deutschen Innenminister die Entlassung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Felix Klein, so formulierten sie, sei „eindeutig besessen“ vom Thema BDS, der in Deutschland nur einen „winzigen Fußabdruck“ hat, während er die „akute Bedrohung, die der Anstieg des rechtsextremen Antisemitismus für Juden und das jüdische Leben in Deutschland“ darstellt, deutlich weniger Aufmerksamkeit schenke.
Der Antisemitismusbeauftragte, heißt es im Brief, arbeite in „Synergie mit der israelischen Regierung“, um die „Gegner der israelischen Politik zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen“ und befördere damit die „Instrumentalisierung“, die den wahren Kampf gegen den Antisemitismus untergrabe.
Seit 2018 verkörpert der joviale 52-jährige Anwalt und Ex-Diplomat Felix Klein das offizielle Engagement der Bundesregierung gegen Antisemitismus in Deutschland. Die Kritik an seiner Person nähme er sehr ernst, versichert er in einem telefonisch geführten Interview. Doch er lehnt die „Hierarchisierung“ im Kampf gegen Antisemitismus ab: „Es gibt keinen harmlosen Antisemitismus. Wir müssen jede Form von Antisemitismus gleichermaßen bekämpfen“, betont er. „Wir müssen den Antisemitismus an der Wurzel packen, auch in der Mitte der Gesellschaft, auch in der Wissenschaft, nicht erst wenn Juden angegriffen werden“.
Die Entschließung des Bundestages hält er, trotz der Sorge angesichts einer Einschränkung der Meinungsfreiheit, für weitgehend positiv. Sie sei „ein eindeutiges Zeichen gegen Antisemitismus und dessen in Europa am meisten verbreitete Form, den Israel-bezogenen Antisemitismus, und ein starkes Zeichen der Solidarität mit Israel und gegen die Versuche, es zu delegitimieren und dämonisieren“.
Merkels Berater im Fokus
Gleichwohl scheint der exzessive Gebrauch des Begriffs „Antisemitismus“ Implikationen zu haben, die weit über die Welt der Kunst und Kultur hinausgehen. So befürchtet Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, durch den häufigen Verweis auf Antisemitismus massive Konsequenzen für die diplomatischen Aktivitäten Deutschlands. „Die Bundesrepublik versucht, angeblich immer in Absprache mit Israel, Resolutionen gegen Israel durch Mitwirkung zu entschärfen, oder abzuschwächen. Da hat Deutschland in der Vergangenheit sehr intensiv mitgewirkt“, sagt Kiesewetter. „Hier muss man sich immer vorstellen, da strengt sich die Bundesrepublik mit ihren Diplomaten an, um in der Weltgesundheitsorganisation oder in anderen Organisationen mitzuhelfen, dass anti-israelische Formulierungen geändert bzw. entschärft werden und dann wird einem noch vorgeworfen, man habe aber mitgestimmt“. Entsprechend fürchtet er, dass „dies in Zukunft fortzusetzen, wird das Interesse wesentlich geringer sein“.
Eine der Schlüsselfiguren, die von Institutionen wie dem Simon Wiesenthal Center gern in dieser Hinsicht kritisiert werden, ist Christoph Heusgen, Merkels außen- und sicherheitspolitischer Berater von 2005 bis 2017. Der heutige deutsche Gesandte bei den Vereinten Nationen erwarb sich die zweifelhafte Auszeichnung, vom Simon Wiesenthal Center als Täter auf die Liste der zehn schlimmsten antisemitischen Akte des Jahres 2019 gesetzt zu werden. Der Grund: Heusgen stimmte für 25 „antiisraelische“ UN-Resolutionen und besaß die Frechheit, im gleichen Satz den Schutz von Zivilisten auf beiden Seiten vor „israelischen Bulldozern und Hamas-Raketen“ zu fordern.
Dass die Bundesrepublik infolge öffentlicher Proteste dieser Art ihre Außenpolitik ändert, ist unwahrscheinlich. Nichtsdestoweniger deuten Kiesewetters Kommentare darauf hin, dass die Antisemitismus-Anschuldigungen ermüdend sind. „Von dem, was ich höre, ist man diese ständigen Anfeindungen leid“, sagt er. Im deutschen Abstimmungsverhalten in internationalen Gremien habe das bereits zu einem „Paradigmenwechsel“ geführt, erklärt der CDU-Mann: „weil man versucht, giftige, böse und falsche Formulierungen abzuschwächen und wird dann in eine antisemitische Ecke gestellt. Ich glaube, das kann sich Deutschland in Zukunft nicht mehr so stark leisten“.
BDS? Nie gehört
Zurück zu Stefanie Carp. Die Angriffe begannen bereits 2018, im ersten Jahr ihrer Intendanz der Ruhrtriennale. Sie sagt, den Begriff BDS habe sie zuvor nie gehört. Damals hatte sie die britische Popband Young Fathers eingeladen. Die Befürworter eines Israelboykotts sollten beim Festival auftreten. „Es war schrecklich“, berichtet sie. „Seitdem haben sie mich auf dem Schirm.“ Carp musste sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus wehren und sah sich gezwungen in einem Brief an das nordrhein-westfälische Landesparlament ihre uneingeschränkte Unterstützung für das Existenzrecht Israels zu erklären.
„Vor dem Festival, als auf einmal der ganze Betrieb gegen mich war und alle mich fragten, wie ich diese Band wieder einladen konnte, musste ich irgendwo hinfahren“, erinnert sie sich. „Ich saß im Zug und dachte: ‚Scheiße, ich hab einen Fehler gemacht. Vielleicht bin ich eine Antisemitin. Ich weiß es noch einfach nicht. Ich fühlte mich wirklich schrecklich. Ich dachte, vielleicht ist so etwas in Deutschen, in meiner Generation, und was man verdrängt hat, und was jetzt rauskommt.“
Carp ist nicht die einzige, in der ernsthafte Selbstzweifel aufkommen, als man sie zum ersten Mal des Antisemitismus bezichtigt, was zeigt, wie tief verwurzelt das Erschauern angesichts dieses Vorwurfs ist. Alle, mit denen wir für diesen Artikel sprachen, manifestierten große Angst vor diesem Etikett. Es ist ein „extremer Vorwurf“, eine „Schublade, die sozial, ökonomisch und politisch dein Ende bedeutet“, ein Urteil, das dich „aus der bürgerlichen Gesellschaft ausschließt“ und ein „Pariah-Status“ impliziert, und „das ist gut so“, ergänzten unsere Interviewpartner*innen.
Der Fall der Young Fathers inspirierte den Düsseldorfer Landtag im September 2018 zu einer Resolution, in der BDS zu einer antisemitischen Bewegung erklärt wird, die in keiner Weise gefördert werden dürfe. Das Ereignis wurde zum Wendepunkt mit Blick auf das Verhalten von Kulturinstitutionen. „Die Politiker erwarten von uns, den Direktoren der Institutionen, dass wir die Zensur übernehmen“, sagt Carp. Jeder online auffindbare Beweis für eine Verbindung zu BDS disqualifiziert die betreffende Person. „Von diesem Tag an übte die Geschäftsführung [des Festivals] unglaublichen Druck auf mein ganzes Team aus. ,Haben Sie diese Künstlerin oder diesen Künstler überprüft? Haben Sie etwas gefunden? Sie müssen jede und jeden checken!‘, hieß es. Ich musste permanent wachsam sein und immer wieder deutlich machen, dass dies meine Abteilung ist. ,Das ist meine Abteilung, nicht deine, und sie führen keine Nachforschungen um jemand zu zensieren‘“.
Das Naomi-Klein-Zitat
In einem Fall verwendete sie in einer Solidaritätserklärung für Künstler*innen während der Coronakrise ein – nicht auf Israel bezogenes – Zitat von Naomi Klein. Die kanadische Journalistin und Intellektuelle aus jüdischer Familie hatte sich in der Vergangenheit positiv zu BDS geäußert. Überrascht stellte Carp fest, dass ihr Statement nicht auf der Website des Festivals veröffentlicht wurde. „Sie hatten Angst. Sie fürchteten, Ärger zu bekommen. Nach ein paar Tagen forderte mich die Geschäftsführerin der Triennale auf, das Naomi-Klein-Zitat zu streichen. Sonst würde sie nicht unterzeichnen. Sie wollte mir damit helfen und Ärger vermeiden.“
Bald ertappte sich Carp selbst dabei, bei ihren Künstler*innen immer genauer hinzuschauen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. „Das ist diese furchtbare Selbstzensur“, klagt sie. Und sie kann zahlreiche Beispiele nennen. 2019 sollte die belgische Needcompany Premiere feiern. Carp schildert die Situation: „An einer Stelle der Performance, die auch im Werbe-Trailer erscheint, sagt [der Gründer der Gruppe] Jan Lauwers: ‚Ich war in Hebron und ich war schockiert.‘ Darauf diskutierte die Ruhrtriennale darüber, was geschehen würde, wenn bestimmte Blogger diesen Satz hörten. In einem Text im Programmheft zeichnete Lauwers überdies detailliert auf, was ihn so schockierte. Die Geschäftsführung rief mich an und sagte, dieser und einige andere Sätze müssten gestrichen werden. Vielleicht haben sie recht, dachte ich. Vielleicht sollten wir Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Ich versuchte, Lauwers unseren Standpunkt zu erklären. ‚Das ist Zensur!‘, schrie er mich an. ‚Wenn dieser Text nicht erscheint, fahre ich nach Belgien zurück.‘ Die Geschäftsführung gab klein bei, und es geschah nichts. Alles lief nach Plan. Doch das war unser tägliches Leben. Ein Klima der Angst machte sich beim Festival breit.“
Auch im akademischen Kontext ist der Druck spürbar. Stefanie Schüler-Springorum (58), Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin, ist er wohlvertraut. Als nichtjüdische Professorin für Jüdische Geschichte muss sie immer wieder begründen, warum sie sich auf dieses Thema spezialisiert hat. „Mein zweites Fach ist Spanische Geschichte. darüber werde ich nie gefragt“, erklärt sie. „Oft hört man die Frage, wie kann man Antisemitismus wirklich verstehen, wenn man nicht jüdisch ist? Das ist dann auch ein versteckter Vorwurf gegen das ZfA, wo vorwiegend Nichtjuden arbeiten.“
Der Druck nimmt zu
Schüler-Springorum merkt, dass der Druck auf das Zentrum – eine Institution mit exzellentem akademischem Renommee – ständig zunimmt. „Ich selbst erlebe das seit 2013, als wir zusammen mit dem Jüdischen Museum eine Konferenzt zum Thema Antisemitismus organisierten,“ berichtet sie. Als Eröffnungsredner war Brian Klug vorgesehen. Doch der jüdische Dozent an der philosophischen Fakultät in Oxford hatte sich durch seine kritischen Ansichten zum Zionismus angreifbar gemacht, und das Wiesenthal Center schrieb – moderat wie immer – in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, dass „Hitler heute die ungeheuerliche Politik [des Jüdischen Museums] feiern würde.“ – „Es war eine dramatische Erfahrung für mich“, sagt Schüler-Springorum im Rückblick.
Die jüngste Initiative der Kultureinrichtungen sieht sie als Chance, nicht länger allein in der Schusslinie zu stehen. „Von schlechter Stimmung und schlechten Nächten abgesehen“ beantwortet sie die Frage, was das für die Arbeit ihres Zentrums bedeutet,„sind die Mitarbeiter des Zentrums verunsichert und es gibt eine Art Selbstzensur“. „In bestimmten Fällen überlegt man, gehe ich jetzt auf diese Konferenz? Lade ich diesen Kollegen ein? Dann wäre ich wieder drei Wochen mit Shitstorm-Bekämpfung beschäftigt und ich brauche meine Zeit für andere Sachen, für die ich eigentlich bezahlt werde als Hochschullehrerin. Es gibt eine Art vorauseilenden Gehorsam, eine vorauseilende Selbstzensur.“
Der Druck manifestiert sich auch in der Beziehung zwischen der Fakultät und den Studierenden, sagt Schüler-Springorum. So verteilten vor zwei Jahren Studierende des Zentrums ein nur mit „Junge Wissenschaftler*innen für Israel“ unterzeichnetes Flugblatt gegen Lehrbeauftragte, die sich ihrer Meinung nach zu intensiv mit Fragen des „traditionellen“ Antisemitismus befassten. „Wir wollen darauf vorbereitet werden, uns an der Debatte über die Theorien und aktuellen Charakteristika und Phänomene von Antisemitismus zu beteiligen: Antizionismus, islamischer und islamistischer Antisemitismus“, lautete ihre Forderung.
„Durch solche Fälle wird der Lehre den Vertrauensboden entzogen.“, beklagt Schüler-Springorum. Das anonyme Flugblatt war eine implizierte Kritik an den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des Zentrums, die sich nicht aus vollem Herzen dem Kampf gegen Antisemitismus verschreiben oder diesen gar tolerieren würden. Seitdem bietet die Direktorin keine Studienreisen mehr ins Ausland an, da diese eine größere Nähe zu den Studierenden bedingen. „Da habe ich das Gefühl, das möchte ich nicht mehr, wenn ich nicht weiß, ob Leute da drunter sind, die mich als Antisemitin denunzieren würden. Und da bin ich extrem vorsichtig.“ Und ansonsten auch. „Ich sag ehrlich, Peter Schäfers Rücktritt bedeutete für mich einen tiefen Einschnitt“, fährt sie fort. „Wenn es möglich ist, dass ein so renommierter Wissenschaftler sein Amt verliert, fragt man sich schon, wie es weiter geht mit der Freiheit von Kultur und Wissenschaft.
Stefanie Schüler-Springorum ist nicht die einzige, die im Gespräch mit Haaretz Peter Schäfer erwähnt und den Fall des angesehenen Professors für das Judentum und Christentum der Antike als deutlich sichtbare Wende wahrnimmt. Im Juni 2019 trat Schäfer als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin zurück, wenige Wochen nachdem der Bundestag seine Resolution verabschiedet hatte. Für viele war das ein Zeichen für den exponentiellen Schub, den der Beschluss mit sich brachte.
Was Peter Schäfer sagt
Anderthalb Jahre lang verweigerte der 77-jährige Wissenschaftler jede Interviewanfrage. Wenige Tage nach seinem Rücktritt, inmitten des medialen Furors, begann der Experte für Antisemitismus – und viele andere Themen –, dem nun selbst Antisemitismus vorgeworfen wurde, die Arbeit an einem Buch über die Geschichte des Antisemitismus. „Das hat mich gerettet“, sagt er in einem Telefonat anlässlich der Publikation seines in Rekordgeschwindigkeit vollendeten Werkes. „Schreiben half mir, das alles zu überstehen und nicht in ein tiefes Loch zu fallen.“
Die Ereignisse, die zu seiner Demission führten, provozierten den Protest von 95 Museumsdirektor*innen und 445 Judaistik-Professor*innen aus der ganzen Welt. Die Solidaritätsadresse, die ihn am stärksten berührte, kam von 45 Talmud-Gelehrten, die sich in der Regel nicht dadurch auszeichnen, dass sie Konsens um jeden Preis suchen. „Die wichtigsten und bekanntesten hakhmei Talmud unterstützen einen deutschen goy!“, lacht Schäfer.
Auf das Radar der Anti-BDS-Kämpfer geriet er durch die Ausstellung Welcome to Jerusalem im Jüdischen Museum und ihr Begleitprogramm. Zunächst wurde die Schau einhellig gelobt und erhielt exzellente Rezensionen. „Dann plötzlich schlug das um“, berichtet er. Diverse Tweets des ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten und leidenschaftlichen Israelunterstützers Volker Beck sowie eine Reihe von Artikeln in der Welt gaben den Tenor vor. Die Ausstellung, deren Vergehen offenbar darin bestand, dass sie Jerusalem aus der Perspektive der drei dort vertretenen monotheistischen Religionen, und damit einschließlich der muslimischen Erzählung, präsentierte, galt auf einmal als „geschichtsklitternd“: Das Museum agiere „antiisraelisch“ und die dort stattfindenden Tagungen seien eine Bühne für BDS-Anhänger und Personen, die mit den Muslimbrüdern sympathisieren. „Der Jerusalem-Post-Reporter hat sehr hetzerische E-Mails geschickt wie: ,Haben Sie die falsche Lehre aus dem Holocaust gezogen?‘ oder ‚Israelische Experten haben mir auch gesagt, dass Sie den Antisemitismus verharmlosen und verbreiten. Trifft das zu?‘“, erzählt Schäfer.
Auch Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, schloss sich dem Protest an. Schäfer erinnert sich: „Ich sprach mit Schuster über die Ausstellung, und er beklagte, dass diese parteiisch sei.“ So könne es nicht weitergehen, es sei sehr schade und so weiter. „Dann im Laufe dieses Gesprächs hat er mir ganz klar gesagt, worauf mir der Mund offen stehen blieb, dass er die Ausstellung gar nicht gesehen hatte.“
Die Kritik an Welcome to Jerusalem wurde immer lauter. Schließlich verurteilte sie sogar der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu. Schäfer wurde von allen Seiten angegangen, in einigen Fällen ausgesprochen persönlich und sehr böse. Am Ende war es aber ein kritischer Tweet einer Sprecherin des Jüdischen Museums zur Bundestagsresolution, die das Fass zum Überlaufen brachte. „Die Atmosphäre war sehr aufgeheizt“, bestätigt Schäfer. „Das war dann ein Punkt, wo es sich so gesteigert hat, dass ich dann beschlossen habe, das hat keinen Sinn mehr, die Hetze wird weitergehen. Ich kann mich dagegen wehren, natürlich, aber das wird das Museum weiter schaden.“ Schäfer räumte seinen Schreibtisch und ging. „Es war meine eigene Entscheidung”, schildert er den Moment. „Allerdings hatte ich auch keinen Rückhalt mehr in der Politik. Als es sich so zugespitzt hatte, hat die Politik gesagt, das hat wirklich keinen Sinn, es ist wirklich besser, wenn du jetzt zurücktrittst. Das wurde mir schon gesagt.“
Das letzte Kapitel in Schäfers jüngstem Buch Kurze Geschichte des Antisemitismus befasst sich mit BDS und der Resolution des Deutschen Bundestages. „In der ganzen Debatte bezüglich BDS ist von manchen ganz klar der Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert worden, um die Leute, die einem nicht passen, auf diese Weise zu erledigen, unmöglich zu machen. Der Antisemitismusvorwurf ist eine Keule, mit der man jemanden ganz schnell totschlagen kann. Und diese Keule wurde und wird auch von politischen Kreisen, die daran Interesse haben, benutzt, überhaupt keine Frage.“
Panik im Museum
Schäfer bestätigt auch den anhaltenden Druck, der aufgrund der Anschuldigungen auf dem Museum lastete: „Wir haben uns natürlich immer mehr überlegt, bei jedem und bei jeder, die wir eingeladen haben, wird das uns wieder um die Ohren geschlagen? Die ist oder der ist ein BDS-Sympathisant, da würde man besser doch vielleicht die Finger davon lassen? Die Leute im Museum waren langsam panisch. Wir haben natürlich dann auch angefangen Hintergrundchecks zu machen. Das hat schon die Atmosphäre und unsere Arbeit immer mehr vergiftet.“
Peter Schäfer ist überzeugt, dass die Resolution eine große Gefahr darstellt: „Die israelischen und jüdischen Kollegen, die den Bundestagaseschluss verhindern wollten, sagten, dass er nicht nur den Antisemitismus nicht bekämpft, sondern letztlich in Gefahr läuft, Antisemitismus zu verstärken, und ich finde, da haben sie recht. Er kann von den wirklichen Antisemiten und den Themen, die sie vortragen, ablenken. So können sie dann sagen, das ist alles nur politisch, das ist ein politisches Spiel. Das ist eine Gefahr.“
Die Angriffe auf Kunst- und Kulturinstitutionen, wissenschaftliche Einrichtungen und Universitäten erstreckten sich zuletzt auch auf die Medien und richteten sich insbesondere gegen Journalist*innen, die den Mut zur kritischen Berichterstattung haben. Im Mai dieses Jahres kritisierte der Deutschlandradio-Chefkorrespondent Stephan Detjen den Umgang des Antisemitismusbeauftragen Felix Klein mit der Affäre Mbembe. In Antwort darauf steckte Klein dem Spiegel, dass Detjen nun jetzt gebührend Druck bekomme und deutete an, dass es Forderungen nach der Entlassung des Radiomanns gäbe. Eine Rückfrage des Nachrichtenmagazins beim zuständigen Ministerium ergab, dass niemand ein solches Ansinnen geäußert hatte.
„Ich hatte es noch nie erlebt, dass ein Beamter mit Sitz im Innenministerium, ein Beauftragter der Bundesregierung, von Entlassungsforderungen gegen einen Journalisten spricht, weil ein Kommentar ihm nicht gefallen hat“, so Detjen in einem Telefoninterview. Doch er ist sich der Implikationen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus sehr wohl bewusst. „Wenn Sie sich zu diesen Themen äußern, müssen Sie wissen, dass der Wind Ihnen ins Gesicht bläst. Die Angriffe, die man erleben kann, gehen weit über den Inhalt hinaus. Sie sind zum Teil persönlich und zielen darauf ab, den Ruf zu beschädigen. Dadurch entsteht erheblicher Druck.“
„BDS“!!!
Zuletzt erwies sich, dass selbst in Deutschland lebende Israelis vor Unterstellungen dieser Art nicht gefeit sind. Vor einem Jahr beschlossen mehrere von ihnen in Berlin, eine Gesprächsgruppe zu gründen, um das zionistische Narrativ zu debattieren, mit dem sie aufgewachsen waren. Im Oktober luden sie in Kooperation mit der Weißensee Kunsthochschule Berlin zu einer Online-Diskussionsreihe mit dem Titel „The School for Unlearning Zionism“. Ein paar Dutzend Zuhörer*innen schalteten sich ein. Geplant war auch eine kleine Ausstellung. Eine Woche lang lief das Projekt störungsfrei in einem kleinen Zoom-Fenster am Rande des World Wide Web. Bis jemand „BDS“ rief.
Die Folge von Ereignissen, die die lokale Initiative auf die Tagesordnung der Agenturen katapultierte, illustriert aufs Feinste, worum es eigentlich ging. Am 7. Oktober um 11:27 Uhr twitterte der israelische Journalist Eldad Beck über ein „von der Bundesregierung finanziertes antizionistisches Curriculum“. Zwei Stunden später verweist ein deutschsprachiger Tweet auf „Ein Haufen BDS-Supporter, die sich in den Räumen einer öffentlichen Hochschule treffen“. Um 13:53 Uhr twittert der Ex-Politiker Volker Beck „Ungeheuerlichkeit“ und teilt mit, er habe bereits die Bundesministerin für Bildung und Forschung von der Angelegenheit unterrichtet. Um 16:19 Uhr landet eine hochbrisante E-Mail im Büro in Weißensee. Ein Reporter der Welt möchte wissen, wie die Hochschule zu BDS steht.
Die Maschine war angelaufen. Am nächsten Tag wurde die Website des Projekts von der sie hostenden Akademie vom Netz genommen, und das kleine Budget, das den Macher*innen zur Verfügung gestellt worden war, gestrichen. Aus dem Bildungsministerium verlautbarte man in aller Eile, dass es keine öffentliche Förderung gegeben habe. In einer offiziellen Mitteilung nannte die israelische Botschaft die Initiative antisemitisch. Das American Jewish Committee verurteilte die „Delegitimierung Israels“. Die staatlich-finanzierte Amadeu-Antonio-Stiftung setzte das Projekt auf die Liste der von ihr dokumentierten antisemitischen Ereignisse – zusammen mit den Hakenkreuzen auf einem Leipziger Sportplatz und dem brutalen Überfall auf einen Kippa-tragenden Studenten im Eingang einer Hamburger Synagoge.
Die Organisator*innen, die sich nicht einmal alle zu politischen Aktivist*innen zählen, fühlten sich „betrogen“. „Unser Projekt steht in keinerlei Verbindung zu BDS”, sagt Yehudit Yinhar, eine von ihnen. „Allerdings weigern wir uns grundsätzlich, die Frage ,BDS – Ja oder Nein?‘ zum einzigen Rahmen zu machen, innerhalb dessen eine Diskussion über Israel und Palästina stattfinden darf. Das wäre zu einfach.“ – „Die Resolution des Bundestages kann jedes Mal gezogen werden, wenn ein Palästinenser oder ein nicht-zionistischer Israeli das Wort ergreifen will“, ergänzt die 35-jährige Kunststudentin in Berlin, selbst in einem Kibbutz aufgewachsen und aktives Mitglied der NGO Combatants for Peace.
Die Resolution behindert auch die Beteiligung jüdischer und israelischer Linker an politischen Foren. „Es ist schwer, Vertreter*innen aus progressiven jüdischen Kreisen, Linke oder Kritiker*innen der Besatzung einzuladen, wenn sie zum politischen Handeln aufrufen,“ erläutert ein hochrangiger Mitarbeiter einer politischen Institution in Deutschland, der selbst jüdisch-israelischer Herkunft ist und seinen Namen nicht gedruckt sehen möchte. „Schließlich kommen die Leute nicht nur, um zu sagen: ‚Ach, das ist nicht gut.‘ Wir sind alle politische Menschen, und dieses Problem muss gelöst werden. Die Besatzung muss ein Ende haben. ... Wenn wir nicht darüber reden dürfen, was sollen wir dann sagen? ‚Ach, es ist so schwer! Ach, wie gut, dass die israelische Linke kämpft!‘?“
„Am Ende“, fügt er hinzu, „wird alles komplett unpolitisch. Unsere Arbeit hat dann keine politische Relevanz mehr, ist inhaltsleer. Dann haben wir zuletzt nur noch eine nette Vortragsreihe für Pensionäre.“
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