Er stößt sich an dem Wort Grenzgänger. Jemand fragte ihn einmal, ob Gehörlose Grenzgänger im eigenen Land seien, Wanderer zwischen zwei Welten. Das Wort Wechselwirkung findet er besser, beide Kulturen, die der Hörenden und Gehörlosen, beinflussen sich im günstigen Falle gegenseitig. "Bin ich zuerst gehörlos und dann in Deutschland aufgewachsen?" fragt er. Und antwortet: Umgekehrt. Ich bin zuerst in Deutschland aufgewachsen und außerdem bin ich gehörlos.
Die Bewegungen seiner Gebärden sind weich. Sein Gegenüber ist hörend und der Gebärdensprache nicht mächtig. Eine Dolmetscherin übersetzt. Flinke Fingerbewegungen, Berührungen der Stirn, der Wange. Was denn diese schöne Geste sei: Daumen und Zeigefinger der einen Hand berühren einander an den Spitzen und picken den Handrücken der anderen Hand? - Gebärde, korrigiert er, schöne Gebärde. - Ah! - Das heißt Arzt.
Christian Rathmann ist 37 Jahre alt, hat sich schon als Kind für Sprachen interessiert und sich sein Leben lang intensiv mit ihnen auseinandergesetzt. Seine Muttersprache ist die Gebärdensprache. Er ist gehörlos seit seiner Geburt. Im April diesen Jahres hat er am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser in Hamburg einen Lehrstuhl besetzt. Nun ist der Linguist der erste gehörlose Professor in Deutschland.
Grund für eine Reise in die Stadt der einstigen Hanse. Kurzer Stopp an der Außenalster. Das Gesicht in die Frühlingssonne halten. Die Blüten einer japanischen Kirsche vor dem Blau des Himmels bewundern. Hinüber zur Rothenbaumchaussee. Ein Denkmal erinnert an hanseatische Krieger, gefallen 1870 im Krieg gegen Frankreich. Ebenfalls im neunzehnten Jahrhundert, 1880, beschließen während eines Mailänder Kongresses Pädagogen, man müsse Kinder an Gehörlosenschulen ausschließlich in gesprochener Sprache unterrichten. Die zumeist hörenden Pädagogen glaubten, die Gebärdensprache verhindere das Erlernen der Lautsprache.
Wie mag es gewesen sein, Mathematik zu begreifen, ohne sprachlich zu erfassen, was der Lehrer sagt? Wie, einen ganzen Schultag lang in sich zu verharren, weil man mit den anderen Kindern nicht gebärden darf?
Das Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser befindet sich in einem kleinen und nüchternen Betonkasten am Grindelplatz. Wer eintritt, hat die Wahl: rechts die Treppen hoch oder geradeaus durch einen schmalen Flur. Es ist still. Auf beiden Seiten des Gangs reihen sich Türen. Hinter dieser muss es sein. Es ist noch früh, das Seminar beginnt erst in einer Viertelstunde. Warten. Hinter einer der Türen setzt Musik ein. Klassik. Etwas Dramatisches.
Rathmann hat selbst an diesem Institut studiert, bevor er 1996 zum weiteren Studium das Land Richtung USA verließ. Auf die Frage, ob es ihm nach elf Jahren schwer gefallen sei, zurück nach Hamburg zu kommen, wird er später antworten: "Nein. Hamburg war schon immer meine Wahlheimat."
Jemand schließt die Tür des Seminarraums auf. Wenige Tische stehen an den Wänden. Die Studenten trudeln paarweise oder in kleinen Gruppen ein. Eine Studentin zieht sich einen Stuhl heran. Eine andere sagt, mit Blick auf sie: "Wie gut, dass die nicht hören, wie laut sie dabei sind." Zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen setzen sich in die Mitte des Raums, mit dem Gesicht zu den gehörlosen Studierenden im vorderen Teil des Raums und dem Stehpult des Dozenten. Sie werden die Brücke schlagen zwischen Gebärdensprache und Lautsprache: Am Seminar nehmen Hörende und Gehörlose teil.
Endlich betritt Rathmann den Raum. Er beginnt sofort. Gibt es noch Fragen zum letzten Mal? Nein? Gut. Halt, hier ist doch eine Meldung. Eine Studentin gebärdet: "Wer schreibt für mich mit?"
Die gesetzliche Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als eigenständige Sprache im Mai 2002 setzt zumindest formal einen Meilenstein in deren Geschichte.
"Das Landesgleichstellungsgesetz in Berlin zum Beispiel", erläutert Rathmann später, im Gespräch in der Sitzecke seines Büros, "legt fest, dass gehörlose Kinder ein Recht darauf haben, im Unterricht die Gebärdensprache zu verwenden." Die Lehrer müssten daher kompetent in dieser Sprache sein, folgert er. Und weiß: Die Geschichten aus der Praxis erzählen Anderes.
Warum? 90 Prozent der gehörlosen Kinder haben hörende Eltern, erklärt Rathmann. Ein gehörloses Kind sei etwas ganz Neues sie. Sie gingen mit diesem Kind zum Arzt und der biete ihnen eine medizinische "Lösung" an: Eine Innenohrprothese, ein so genanntes Cochleaimplantat, kurz, ein CI.
Die Cochlea ist ein Teil des Innenohrs. Das Implantat wird unter der Haut hinter dem Ohr eingesetzt. Von dort werden Elektroden zum Innenohr verlegt. Die Schallwellen einer Stimme zum Beispiel gehen den Weg vom Mikrophon und Sprachprozessor, beide außerhalb des Körpers, durch die Elektroden zum Hörzentrum im Gehirn. Gehörlose, die ein CI bekommen, müssen das Hören erst lernen. Sie müssen lernen, Geräusche, die durch den Prozessor verändert sind, zu unterscheiden und zu zuordnen.
"Das CI ist ein Hilfsmittel, kein Ersatz", fährt Rathmann fort, manchmal zeige es gar keinen Erfolg. Zweifellos hat das Cochleaimplantat die Welt der Gehörlosen verändert: "Früher", sagt der Professor, "haben die Ärzte die Eltern nach der Diagnose Gehörlosigkeit in die Gehörlosenschulen geschickt, damit sie sich dort beraten lassen. Seit es das CI gibt, beziehen sie die Fachleute an den Schulen häufig gar nicht mehr erst mit ein."
Fürchtet Rathmann, die Gebärdensprache könne aussterben - durch die Erfindung des CI? Nein, meint er. Aber wenn Kinder mit einem CI aufwachsen und keinen Kontakt zu Gehörlosen haben, die gebärden, bedeute das einen großen Verlust. Nicht nur, dass Zweisprachigkeit die Intelligenz fördere und kulturellen Reichtum bedeute. Es sei auch wichtig, dass ein Kind seine erste Sprache, die "Muttersprache", so früh wie möglich natürlich erwerbe. Auf dieser Grundlage könne es weitere Sprachen aufbauen. Wenn ein Kind ein CI bekommt und dann doch nicht hören kann, sagt Rathmann, lernt es erst mit großer Verzögerung, zu gebärden. Dann ist es für diesen ersten Spracherwerb zu spät.
Rathmanns Wimpern, ungewöhnlich lang und blond, senken und heben sich, während er gebärdet, in blitzschnellem Wechsel. Er, der selbst kein CI trägt, lehnt diese Technik nicht ab. Doch er erwartet von der Wissenschaft, die sie entwickelt und den Ärzten, die sie anwendt, dass sie die Existenz der Gebärdensprache in ihr Denken und Handeln einbeziehen. So wie Rathmann die Gebärdensprache als Teil und Bereicherung unserer aller Sprachkultur begreift, will er auch, dass die Kultur der Gehörlosen anerkannt wird. Und wehrt sich gegen ihre Diskriminierung. In England, erzählt er, diskutiert man derzeit über einen Gesetzesentwurf zur In-vitro-Fertilisation, zur künstlichen Befruchtung. Dieser Entwurf lässt für das Verfahren nur so genannte "erbgesunde" Embryonen zu. Wenn nun zwei Gehörlose mehrere Embryonen zeugen und eins von ihnen voraussichtlich gehörlos ist, dürfte das Paar dem Gesetz zufolge sich nicht dazu entscheiden, dieses Kind zu bekommen.
Von draußen hört man kleine, hohe alberne Stimmen. Jemand rüttelt kräftig an der Klinke der verschlossenen Tür.
"Das war ein Kind", sagt die Dolmetscherin. Die Laiin kann nicht erkennen, ob sie den Satz übersetzt oder von sich aus sagt. Manchmal, wenn Rathmann die Dolmetscherin ansieht, während sie gebärdet, bewegt sich sein Mienenspiel zwischen Sekpsis, Missfallen und Ernsthaftigkeit. Oder ist es Konzentration? Worauf sich sein Gesichtsausdruck bezieht, ist schwer auszumachen. Aber wenn er lacht, dann lacht er über das ganze Gesicht und mit den Augen.
Zum Beispiel, als er eine Geschichte von gehörlosen Kindern in Nicaragua erzählt. Bis zur sandinistischen Revolution 1979 kannte man in Nicaragua keine Gehörlosenschulen, die Kinder gingen nicht zum Unterricht und benutzten in ihren Familien jeweils eine Art "Hausgebärdensprache". Jetzt sollte es Schulen für Gehörlose geben. Sie trafen sich, mischten die unterschiedlichen Hausgebärden und entwickelten ein System daraus. Die jüngeren Kinder übernahmen es von den Älteren und ergänzten es. Die Nächsten schufen eine Grammatik und eine Syntax. Ein Lexikon wurde geschrieben und die nicaraguanische Gebärdensprache war geboren. "Die ganze Welt", freut sich Rathman, "hat damals auf Nicaragua geschaut, weil es unglaublich spannend war. Und das Schöne war", fügt er hinzu, "dass die gehörlosen Kinder das selbst entwickelt haben und so einen Beitrag zur Vielfalt der Sprachen geleistet haben."
Wie die Gebärdensprache wächst und sich verändert, vermittelt Rathmann auch im Seminar: Die israelische Gebärdensprache gebärdet das Wort "wichtig" genauso wie die deutsche, weil deutsche Juden das "Wort" während der Zeit des Nationalsozialismus nach Israel gebracht haben. Dann bittet er um Aufmerksamkeit für etwas, das sich in der Gebärdensprache "Aspekt" nennt. Er stellt dar: Ein Ereignis, das sich wiederholt, wird durch Wiederholungen der gesamten Gebärde, ausgedrückt, jeweils unterbrochen von kurzen Pausen. Ein Ereignis, das sich gewohnheitsmäßig wiederholt, wird durch Wiederholungen der gesamten Gebärde ausgedrückt. Jeweils unterbrochen von einer längeren Pause.
Spiel mit Armen und Händen.
Für die Autorin, die in den Gebärden keinen sprachlichen Inhalt erkennen kann, sind sie Bewegungsabschnitte, die ineinander fließen, aber deutlich voneinander unterscheidbar sind. Sie erinnern an die Bewegungen guter Schauspieler, die Gedanken verkörpern, ohne je zu übertreiben oder Mühe darin erkennen zu lassen.
Im Gegensatz zur Lautsprache kann die Gebärdensprache mehrere Informationen parallel übertragen. Rathmann gebärdet: ... fährt über eine Brücke. Seine Hand zeigt mit dem Handrücken nach oben. Er bewegt sie vom Oberkörper weg nach vorn und beschreibt dabei einen Bogen. Der sieht aus wie eine Brücke. Beim Zusehen verdichtet sich: Die Übereinstimmung von körperlichem Ausdruck und Bedeutung dieser Sprache, Rathmans Geschichten darüber, wie sie entstand. Für die Länge eines Atemzugs ist es, als könne man bis dahin sehen, wo alle Geschichte und alle Sprache beginnt.
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