Bleibt doch noch ein Weilchen

EU-Referendum Eigentlich sind die „in“ und „out“ Kampagnen gar nicht so weit voneinander entfernt. Warum es so schwierig ist am Wahltag den Ausgang des Referendums zu prognostizieren.

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Einige haben sich heute Morgen für den Weg zur Wahlkabine für das englische Nationaltrikot entschieden. Die Nachricht dieser Wähler scheint klar. Aber nur auf den ersten Blick, denn selbst die pro-europäische Labour-Partei wirbt mit Plakaten in den Vorgärten mit: „IN for Britain“. Europa ist selbst für Befürworter ein Begriff, der nur schwer über die Lippen geht.

Bei genauerer Beobachtung sind „remain“ und „out“ dann auch gar nicht soweit voneinander entfernt. Prominenter EU-Befürworter Jeremy Corbyn, seines Zeichens Labour-Vorsitzende, zeigt in seinen Reden wenig Enthusiasmus für die EU. Richtlinien von der EU hätten viel zum Erhalt der britischen Bienenpopulation beigetragen war kürzlich eines seiner ersten pro-Argumente. Das zwang keinem seiner Anhänger Beifallstürme ab. Auf EU-Plattformen verbringt Corbyn sonst viel Zeit damit den britischen Schatzmeister zu attackieren. Einzige Krux: der Schatzmeister ist im gleichen Lager.

„Zeig mir einen Menschen auf dieser Insel, der die EU innig liebt.“ Dieser Satz aus einer Unterhaltung mit einem britischen Politikwissenschaftler hat mich ins Nachdenken gebracht. Die Linken finden die EU spätestens seit der Griechenland-Krise autokratisch, Konservative und viele prekär beschäftigte Arbeitnehmer verbinden die EU mit unregulierter Einwanderung. Beide Lager verbindet die Abneigung gegen Autonomieverlust. Keiner mag die EU wirklich. Für ungefähr die Hälfte der Wähler, die heute an die Wahlurne gehen, ist sie nur das kleinere Übel.

„Wie europäisch von dir“ höre ich noch manchmal von englischen Freunden. Manchmal gilt das meinen Klamotten, oder dem Fakt, dass ich Fahrrad zur Uni fahre. Ich reagiere darauf immer noch perplex. „Aber du bist doch auch Europäer“, sage ich dann. Neulich habe ich die verschmitzte Antwort bekommen: „mal schauen wie lange noch“.

Der britische Premierminister David Cameron hat im Zuge des Referendums erlebt, dass die EU seine Partei im Innersten erschüttern kann. Sein langjähriger „frenemy“ (englisch für eine Symbiose aus Freund und Feind) Boris Johnson hat sich mit all einem politischen Geschick auf die Brexit-Kampagne stark gemacht. Die EU mit Hitlers Expansionswahn zu vergleichen stieß gleich zum Auftakt seines Engagements auf große Empörung. Doch inzwischen gibt sich „Bojo“ immer staatsmännischer. Neulich hat er sogar verlauten lassen, dass er Immigranten mag. Seine Familie hätte schließlich auch Migrationsgeschichte. Dem „out“ Lager wurde vorgeworfen, Hass gegen Immigranten zu schüren.

Viele sahen darin den Versuch die Wogen nach der Ermordung der „remain“-Befürworterin und Labour-Abgeordneten Jo Cox letzte Woche zu glätten. Der tragische Tod hat wahrscheinlich den entscheidenden Ausschlag dafür gegeben, dass die Großbritannien auch nach Schließung der Wahllokale ein Teil der EU bleibt. Unwahrscheinlich, dass sich das wie ein Neuanfang anfühlen wird.

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