"Endsieg" in Aleppo?

Krieg in Syrien Fünf Jahre Krieg haben in Syrien nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Mit Aleppo steht und fällt der ohnehin wackelige Genfer Friedensprozess.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter MedieninhaltDie nordsyrische Stadt Aleppo ist im humanitären Ausnahmezustand. Regierungstruppen und unterschiedlichste Rebellengruppen liefern sich seit Wochen unerbittliche Kämpfe in der Region. Mit Aleppo steht und fällt der ohnehin wackelige Genfer Friedensprozess.

Gestern, am Freitag, dem 6. Mai, feierte das syrische Regime in Damaskus den nationalen Märtyrertag. Vor genau 100 Jahren wurde vom damaligen Wālī des Osmanischen Reichs für Großsyrien – Cemal Pascha, der der Hauptverantwortliche für den brutalen Genozid an den Armeniern ein Jahr zuvor war und auch der Schlächter genannt wurde – an syrischen Nationalisten ein Exempel statuiert, indem sie auf dem (im Nachhinein so benannten) Martyr’s Square in Damaskus hingerichtet wurden.

Auf perfide Weise instrumentalisiert Bashar Al-Assad im Hier und Jetzt den Freiheitskampf gegen die osmanischen Besatzer 100 Jahre zuvor, indem er den Kampf gegen Cemal den Schlächter auf eine Stufe setzt mit dem Kampf gegen Oppositionelle („Terroristen“) in der heftig umkämpften Aleppo-Region.

Bis zum letzten Syrer

Was sich aus dem Arabischen Frühling entwickelte und noch zu Beginn 2011 das Aufbegehren eines wütenden – im Wesentlichen unbewaffneten – Volkes gegen seinen brutalen Diktator war, radikalisierte und internationalisierte sich zusehends und wurde schnell zum brutalsten Krieg unserer Zeit, dem 470.000 Menschen zum Opfer fielen und die Hälfte der Bevölkerung Syriens zu Flüchtlingen werden ließ.

Syrien ist zum Spielball ausländischer Mächte verkommen. Es ist die zentrale und explosivste Frontlinie eines neuen Kalter Krieg-Szenarios der alten Feinde Russland und USA und neben dem brutalen Krieg im Jemen ein zentraler Baustein im regionalen Kampf zwischen dem Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in Middle East.

Die Friedensaktivistin Phyllis Bennis fasst in Foreign Policy In Focus die Lage zusammen:

„Der syrische Konflikt ist gleichzeitig ein Bürgerkrieg – eine brutale Regierung kämpft gegen eine Vielzahl von politischen und militärischen Gegner – und ein Stellvertreterkrieg, in dem unzählige ausländische Mächte für verschiedene regionale und globale Hegemonien kämpfen. Und all diese überlappenden Kriege werden bis zum letzten Syrer gekämpft.“

Die in westlichen Medien oft als vermeintliche Partner heraufbeschworenen „gemäßigten Rebellen“ wurden recht schnell ins Reich der Mythen überführt – es gibt sie schlicht nicht (mehr). Vielmehr ist Syrien heute mit einem Netz Hunderter radikalisierter Gruppen, Milizen und Bataillone überzogen.

Rico Grimm von den Krautreportern illustriert das heillose Chaos dieses Krieges in einer Infographik mit den wichtigsten Kriegsparteien:

Eingebetteter Medieninhalt

Eines darf bei jeder Diskussion über die Komplexität des Syrienkriegs jedoch nie vergessen werden: 19 von 20 der Hunderttausenden getöteten syrischen Zivilisten wurden von Assads Truppen ermordet. Russland, Iran, Hisbollah, IS, Al-Nusra, Türkei, US-Koalition, Kurdistan und alle anderen teilen sich zusammen den einen 20sten:

Eingebetteter Medieninhalt

Syrien ist ein regionaler und gleichzeitig globaler Schmelztiegel der Konflikte, Hegemonieansprüche und Interessen. Und die Stadt Aleppo ist hierin ein Mikro-Schmelztiegel. Doch zunächst ein paar Wochen zurück.

Waffenstillstand – „die größte Hoffnung auf Frieden seit fünf Jahren“?

Die verfeindeten syrischen Kräfte hatten stets quasi-unerfüllbare Vorbedingungen für Friedensverhandlungen gestellt. Noch im Dezember letzten Jahres bekräftigte Assad, er werde nicht mit „Terroristen“ verhandeln (gemeint war die Opposition) und wird Syrien „unter keinen Umständen“ verlassen. Ein Abtreten Assads machte die Opposition jedoch stets zur Vorbedingung.

Von daher sind die Erfolge des UN-Gesandten Staffan de Mistura bemerkenswert, Anfang dieses Jahres Delegationen sowohl des Assad-Regimes, als auch der syrischen Opposition zu von den Vereinten Nationen mediierten Friedensgesprächen in Genf zu versammeln – die ersten dieser Art überhaupt.

Mitte Februar einigten sich in München die Parteien – inklusive der Schutzmächte USA und Russland – dann schließlich auf einen Waffenstillstand, der am 27. Februar in Kraft trat.

Er stand von Anfang an auf wackeligsten Beinen.

Alle Kriegsparteien behielten sich das Recht vor, international anerkannte Terrororganisationen weiterhin zu bombardieren – in erster Linie den IS und die Al-Qaida-Filiale in Syrien: die Al-Nusra Front. Assad labelt im Wesentlichen jede Gruppe, die gegen ihn kämpft, als Terroristen. Auch die Türkei machte von Anfang an klar, dass kurdische Kämpfer Terroristen seien und daher vom Deal unberührt blieben. Letztere wiederum ergingen sich im Säbelrasseln und drohten Ankara mit „big war“, sollte die Türkei die türkisch-syrische Grenze überqueren.

Unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ und mit einem Lippenbekenntnis zum internationalen Recht definierten sich alle Kriegsparteien den Empfängerkreis ihrer Bomben so groß wie nur irgendwie möglich.

Ein Waffenstillstand also, der impotenter kaum hätte sein können.

Auf dem schmalen Grat zwischen unermüdlicher Hoffnung und Resignation bewerteten die Vereinten Nationen dieses Abkommen jedoch als „die größte Hoffnung auf Frieden seit fünf Jahren“. Und obwohl es zu Beginn in der Tat zunächst nach Besserung aussah, verfielen sämtliche Kriegsparteien recht schnell ihren alten Schemata: die US-Koalition und Russland bombardieren aus der Luft, Assad wirft weiter Fassbomben, Islamischer Staat, syrische Opposition und Regierungstruppen bekämpfen sich am Boden und die Türkei attackiert kurdische Stellungen im Norden.

Trotz Verletzungen des Abkommens und unerbittlicher Angriffe sämtlicher Kriegsparteien werde der Waffenstillstand „hier und da“ eingehalten, wie das syrische High Negotiations Committee berichtet.

Ein Waffenstillstand jedoch, der nur „hier und da“ eingehalten wird, ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben wurde. Er ist bedeutungslos.

Aleppo – „Syriens Stalingrad“

Ausgerechnet die Stadt Aleppo – der Mikro-Schmelztiegel – war irrwitzigerweise von diesem Waffenstillstand von vornherein ausgenommen.

In keiner anderen Region prallen die verschiedenen Kräfte dieses Konflikts derart aufeinander wie hier. Es sind im Norden vor allem kurdische Verbände und die Dschihadisten vom IS. Mitten durch die Stadt zieht sich die Frontlinie zwischen Regierungstruppen und Opposition, darunter allerlei Dschihadisten-Gruppen wie die Al-Nusra-Front.

Eingebetteter Medieninhalt

Seine Nähe zur türkischen Grenze macht Aleppo zum Knotenpunkt für Kriegsflüchtlinge in Richtung Türkei und Europa und stellt in die entgegengesetzte Richtung die Hauptnachschubroute dar. Aleppo ist damit überlebenswichtig für die Versorgung sämtlicher Oppositionsgruppen und Dschihadisten – explizit auch für Waffen und Truppen für den Islamischen Staat.

Aleppo war vor dem Krieg die größte und wohlhabendste Stadt Syriens und das wirtschaftliche Zentrum, eine Touristenstadt mit über zwei Millionen Einwohnern. Heute ist diese mehr als 4.000 Jahre alte Stadt großflächig dem Erdboden gleich gemacht, eine Geisterstadt mit gerade noch 300 Tausend Menschen.

Aleppo From Above – eine Drohne zeigt das Ausmaß der Zerstörung in Aleppo:

Eingebetteter Medieninhalt

Aleppo gilt trotz der Teilung als Rebellenhochburg und ist die heimliche Hauptstadt des Landes – sie ist wichtiger noch als Damaskus und ist damit nicht nur militärstrategisch sondern auch aus psychologischer Sicht von zentraler Bedeutung für die aktuellen Kämpfe.

Aleppo ist Syriens Gradmesser. Fällt die Stadt oder wird sie belagert, ist der Genfer Friedensprozess endgültig am Ende.

Immer wieder seit 2011 war die Stadt Schauplatz heftigster Kämpfe, was einen Kommentator bereits 2012 zur Analogie verleitete, Aleppo werde „Syriens Stalingrad“.

Nach der Februar-Offensive 2016, bei der 3.000 Regierungstruppen unterstützt von „langen Konvois russischer T-90 Panzer“ und vor allem russischer Kampfflugzeuge viele Dörfer und Städte der Aleppo-Region von den Rebellen zurückerobern konnten, kam es in den zwei Wochen Ende April-Anfang Mai zur heftigsten Welle der Gewalt seit langem.

Das Assad-Regime flog unnachgiebig Luftangriffe auf von der Opposition kontrollierte Teile der Stadt und wird beschuldigt, erneut Fassbomben abgeworfen zu haben. Die syrische Regierung weist hingegen jegliche Verantwortung für das Inferno von Aleppo von sich und gibt vielmehr „Terrororganisationen und ihren saudi-arabischen und türkischen Verbündeten“ die Schuld an der Gewalt.

Als Folge des jüngsten Terrors starben allein in der letzten Aprilwoche 250 Menschen, und mindestens 100 weitere in den ersten Maitagen.

Die aktuell noch von den Rebellen gehaltenen Stadtviertel drohen, in den nächsten Tagen von Regierungstruppen gekesselt zu werden, was katastrophale Folgen für die dort lebende Zivilbevölkerung haben könnte: ähnliche Szenarien spielten sich Anfang dieses Jahres in mehreren syrischen Gegenden ab, als Hunderttausende von der Außenwelt abgeschnittene Menschen vom Hungertod bedroht waren und Dutzende dadurch ums Leben kamen.

Schon in der Vergangenheit hat das Assad-Regime Hunger systematisch als militärische Waffe eingesetzt, um so die belagerte Bevölkerung gegen die Rebellen aufzuhetzen.

Die Bevölkerung „ausbluten lassen“

Im Syrienkrieg kommt massiv eine der wohl niederträchtigsten Kriegstaktiken überhaupt zum Einsatz: die systematische Zerstörung medizinischer Infrastruktur als strategisch-militärische Waffe.

Als Folge von fünf Jahren Krieg ist das Gesundheitssystem Syriens daher am Ende.

Ein unabhängiger Bericht der UN-Generalversammlung hat bereits 2013 herausgestellt, dass das Assad-Regime systematisch Krankenhäuser in von Rebellen gehaltenen Gebieten – insbesondere in Aleppo – bombardierte, um die mit der Opposition sympathisierende Bevölkerung einer Kollektivstrafe zu unterziehen.

Auch der Guardian schreibt, „die syrische Regierung erachtet jede medizinische Einrichtung in von der Opposition kontrollierten Gebieten als militärisches Ziel, da sie diese als de facto illegal einstuft.“

Besonders bitter ist die Lage in Aleppo.

Die medizinische Infrastruktur in den von der Opposition gehaltenen Teilen der Stadt ist dermaßen zerstört, dass nach Angaben von „Ärzte ohne Grenzen“ 95 Prozent des medizinischen Personals im Laufe des Kriegs getötet wurden oder geflohen sind. Ganze 70 bis 80 Ärzte sind noch am Leben und geblieben – für Hunderttausende Menschen.

Berichten zufolge werden verletzte Menschen ohne Schmerzmittel von Tierärzten behandelt.

Seit einigen Wochen nun spitzt sich die Lage dramatisch zu.

Ein Bericht von Amnesty International erhebt den schweren Vorwurf, russische und syrische Truppen hätten seit Beginn dieses Jahres vorsätzlich Krankenhäuser in der Aleppo-Region ins Ziel genommen, um die Bevölkerung und die Rebellen – im wahrsten Sinne des Wortes – ausbluten zu lassen und so den aktuellen Vormarsch der syrischen Regierungstruppen vorzubereiten.

In den letzten Tagen eskaliert die Situation.

Am vergangenen Donnerstag wurde durch einen Bombenangriff ein Kinderkrankenhaus in Aleppo zerstört, das von „Ärzte ohne Grenzen“ und dem Roten Kreuz betrieben wurde. Mindestens 50 Menschen wurden dabei getötet.

Obwohl noch nicht abschließend untersucht, deutet alles darauf hin, dass es Assads Truppen waren, die den brutalen Angriff ausgeführt haben. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA zitiert hingegen eine anonyme Quelle im syrischen Militär, die jegliche Anschuldigungen gegen Assad als „haltlos“ von sich weist.

Unter den Todesopfern befand sich auch Dr. Muhammad Maaz, der letzte in Aleppo verbliebene Kinderarzt. Ein AP-Video zeigt Dr. Maaz Sekunden vor dem Bombeneinschlag noch durch die Gänge des Krankenhauses laufen. Mit seinem Tod befindet sich nun in der ehemaligen Millionen-Metropole Aleppo kein einziger Kinderarzt mehr.

Eingebetteter MedieninhaltUS-Außenminister Kerry verurteilt den Angriff scharf: “Wir sind schockiert über die gestrigen Luftangriffe auf das Al-Quds Krankenhaus in Aleppo […], bei denen Dutzende Menschen getötet wurden, darunter Kinder, Patienten und medizinisches Personal.”

Hätte Kerry doch nur ähnlich scharfe Worte gefunden, als US-Truppen im Oktober 2015 ungestraft ein „Ärzte ohne Grenzen“-Krankenhaus in Kunduz oder US-Alliierte im Januar eine Blindenschule im Jemen in Schutt und Asche gelegt haben, so bleiben seine jetzigen Worte der Empörung nichts als geheuchelte Doppelmoral.

Joanne Liu, die Chefin von „Ärzte ohne Grenzen“, verurteilt in einer bissigen Rede vor dem UN-Sicherheitsrat die jüngsten Angriffe auf medizinische Einrichtungen aufs Schärfste und schließt unmissverständlich:

Stop these attacks!

Ein weiterer – letzter? – Versuch zum Frieden

Angesichts der katastrophalen Entwicklungen in Aleppo der letzten Tage stimmte das syrische Regime auf Drängen der USA und Russlands einer Waffenruhe für Aleppo ab Mittwoch Nacht zu – für 48 Stunden.

Obwohl die brüchige Waffenruhe zumindest in Aleppo selber zu halten schien, kam es im Umfeld der Stadt erneut zu einem Aufflammen der Gewalt.

Etwa 15 Kilometer südlich von Aleppo fanden in der Nacht zu Freitag heftige Kämpfe zwischen einer von der Al-Nusra-Front dominierten Gruppe und Regierungstruppen statt. Im Kampf um das strategisch wichtige Dorf Khan Touman starben mehr als 70 Menschen, darunter glücklicherweise keine Zivilisten.

Am Donnerstag wurde ein Flüchtlingslager nördlich von Aleppo angegriffen (sic), wobei 30 Menschen den Tod fanden. Westliche Medien beriefen sich in ihrer Einschätzung auf ein Statement des britischen Außenministersund hatten mit Assads Luftwaffe schnell den Schuldigen für dieses unaussprechliche Verbrechen ausgemacht.

Russia Today beruft sich hingegen auf Erkenntnisse des russischen Verteidigungsministeriums und lässt einen ehemaligen Pentagon-Offizier zu Wort kommen, der mangels fehlender Beweise bestreitet, dass es überhaupt einen Luftschlag gegeben habe (keine Krater, intaktes Zeltgestänge), und vielmehr Granatbeschuss von Dschihadisten der Al-Nusra-Front verantwortlich macht.

Angesichts der jüngsten Welle des Terrors gegen die syrische Zivilbevölkerung sind Assads martialische Äußerungen vom Donnerstag mehr als verächtlich, als er über arabische Medien verlauten ließ, er werde die „Aggression“ der Rebellen in Aleppo „zerschmettern“, und die syrische Armee strebe den „Endsieg“ an (‘attain final victory‘).

In der Nacht auf Samstag jedenfalls wurde – wieder auf Drängen Russlands und der USA – die Waffenruhe für Aleppo um weitere 72 Stunden ausgedehnt, was die Hoffnung aufkeimen ließ, sie könnte von längerer Dauer sein.

Am vergangenen Montag hat eine Gruppe Schulkinder in Aleppo all ihr Taschengeld gesammelt, um es ihren Leidensschwestern und -brüdern in Xankändi in der Republik Bergkarabach zu spenden. Die kleine armenische Teilrepublik kämpft seit Jahrzehnten um ihre Unabhängigkeit von Aserbaidschan und wurde im April im 4-Tage-Krieg von aserbaidschanischen Truppen angegriffen.

Es ist dieser Akt der Solidarität einer Gruppe Kinder, der laut hinausschreit: „Wir sind noch da! Wir sind am Leben!“ Und es sind diese Kinder in Aleppo, die tatsächlich in der Tradition des Widerstands gegen Cemal den Schlächter stehen – nicht ein feiger Diktator in Damaskus.

Der Text erschien zuerst auf Jakobs Blog JusticeNow!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Reimann

Auf meinem blog justicenow.de setze ich mich kritisch mit den Themen Kapitalismus, Krieg und Rattenschwanz auseinander. Herrschaftsfrei, gewaltfrei!

Jakob Reimann

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden