Israel ist ein Apartheidstaat.

Völkerrecht Ein Meilenstein-UN-Bericht verurteilte die israelische Besatzung Palästinas als „Apartheid" – und wurde dann kassiert. Die Realität vor Ort spricht eine klare Sprache.

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Eingebetteter Medieninhalt„Israel ist des internationalen Verbrechens der Apartheid schuldig,“ mit diesen Worten stellte Richard Falk vergangene Woche einen frisch erschienenen UN-Bericht vor, während seine Kollegin Virginia Tilley klarstellt: „Wir reden nicht länger vom Risiko der Apartheid, sondern von der Anwendung von Apartheid.“

Ein folgenschwerer Bericht

Die beiden international renommierten US-Wissenschaftler leiteten für die UN-Organisation „Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien“ (ESCWA) die Untersuchung über die Behandlung der Palästinenser durch Israel, die zu dem Schluss kommt: „Fern jedes vernünftigen Zweifels, belegen die Beweise, dass Israel schuldig ist, ein Apartheidregime gegen das palästinensische Volk errichtet zu haben.“ Der Bericht räumt ein, dass es jedoch eines ordentlichen internationalen Gerichtsverfahrens bedarf, um diesen Schlussfolgerungen die nötige Autorität zu verleihen und regt daher an, UN-Gerichte sollten diese Aufgabe übernehmen. In all seiner Brisanz ist der Bericht ein historischer Meilenstein, denn es ist das erste Mal, dass eine UN-Organisation die permanenten Verbrechen Israels als „Apartheid“ bezeichnet.

Die Reaktionen und Diffamierungen der üblichen Verdächtigen waren so plump wie vorhersehbar. So sagte, der israelische UN-Botschafter Danny Danon der Bericht sei „ekelhaft und eine unverschämte Lüge,“ die US-Regierung war „schockiert,“ und das israelische Außenministerium verglich den Bericht mit Der Stürmer – der antisemitischen Hetzpropagandaschrift der Hitler-Jahre. Auch der Sprecher des UN-Generalsekretärs distanzierte sich von dem Bericht und ließ mitteilen, es handle sich um ehine Einzelmeinung und keine offizielle UN-Sicht. Sowohl die israelische als vor allem auch die Trump-Regierung übten erheblichen Druck auf UN-Generalsekretär António Guterres aus, den Bericht zurückzuziehen, doch die für die Studie verantwortliche ESCWA-Chefin Rima Khalaf weigerte sich und kündigte aus Protest lieber ihre Stelle bei der UN. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas kündigte an, Rima Khalaf für ihren „Mut und Unterstützung“ für das palästinensische Volk mit der Palestine Medal of the Highest Honour auszeichnen zu wollen.

Der Bericht wurde mittlerweile von der offiziellen Seite der ESCWA entfernt, steht jedoch hier auf JusticeNow! in voller Länge zum Download bereit.

Völkerrecht und Nazipropaganda

Quer durch den Bericht machen die Autoren der Studie deutlich, dass sie an ihre Forschungsarbeit nur einen einzigen Maßstab angelegt haben: den des Internationalen Völkerrechts, hierbei explizit die Definitionen von Apartheid, wie sie die Vereinten Nationen und der Internationale Strafgerichtshof anwenden. Bei der Lektüre beider Vertragstexte fällt es schwer, auch nur einen einzigen Punkt zu finden, der auf die Behandlung der Palästinenser durch Israel nicht zutrifft: systematische Folter und Ermordung, rechtswidrige und willkürliche Inhaftierung, Beschneidung grundlegender Menschenrechte, etwa von Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Verwehrung von politischer, kultureller und wirtschaftlicher Teilhabe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, „ausgeführt mit dem Ziel, die Herrschaft einer rassischen Personengruppe über irgendeine andere rassische Personengruppe herzustellen und aufrechtzuerhalten und [die Letztere] systematisch zu unterdrücken.“

All diese vor mehr als vier Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Apartheid in Südafrika niedergeschriebenen Punkte treffen auf Israel 2017 zweifelsfrei zu. Der schändliche Versuch der israelischen Regierung, den UN-Report als Nazipropaganda zu diffamieren, läuft damit ins Leere, denn technisch gesehen stellt sie mit dem Nazivorwurf vielmehr Der Stürmer und das Völkerrecht auf dieselbe Stufe.

Doch was ist es nun im Konkreten, das Israel zum Apartheidstaat macht? Einige Kernpunkte.

Einwanderung als Apartheidinstrument

Eines der Kernthemen des zurückgezogenen UN-Berichts ist die Einwanderungspolitik Israels als zentrales Werkzeug der Apartheid. Während es allen Juden dieser Welt – und deren Ehepartnern, ihren Kindern, Enkeln und all deren Ehepartnern – möglich ist, staatlich alimentiert nach Israel zu emigrieren, ist dies den im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 vertriebenen Palästinensern und deren Nachkommen strengstens untersagt. Die UN beziffert die palästinensischen Flüchtlinge weltweit auf rund 5 Millionen, die damit die mit Abstand größte Flüchtlingsgruppe darstellen. Die weltweit etwa 8 Millionen nicht in Israel lebenden Juden hingegen könnten jederzeit nach Israel auswandern, obwohl sie in aller Regel keine persönlichen Wurzeln im Land haben. Diese religiös und ethnisch begründete Einwanderungspolitik ist im Kern rassistisch und wird vom UN-Bericht – zusammen mit einigen anderen Maßnahmen wie der ethnischen Säuberung ’48 – mit dem etwas dystopisch anmutenden jedoch gänzlich zutreffenden Begriff des „demographic engineering“ charakterisiert.

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Ein junger Palästinenser, der im Askar Refugee Camp bei Nablus lebt, erzählte mir, seine Großeltern seien ‘48 von jüdischen Milizen mit Waffengewalt aus dem schönen Haifa am Mittelmeer vertrieben und mit unzähligen anderen in dieses Camp im Westjordanland gepfercht worden. Er selbst kennt das nicht allzu weit entfernte Haifa natürlich nur von Bildern und Erzählungen, dennoch beharrt er verständlicherweise auf seinem Recht, irgendwann nach Haifa „zurückzukehren“. Während wir im schäbigen Askar Camp standen und mein Kumpel mir von seinen Träumen erzählte, schauten wir auf die zusehends wachsende illegale jüdische Siedlung auf dem Hügel gegenüber, mit ihren Villen, schwerstens vom Militär bewacht – das ist Apartheid.

Die israelischen Siedlungen sind Kriegsverbrechen

Lediglich 18% der Fläche des Westjordanlands befinden sich unter vollständiger Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (dunkelgrünes Terrain) - es gibt kein zusammenhängendes Palästina.

Neben der Frage des Rückkehrrechts der Flüchtlinge von ‘48 sind die israelischen Siedlungen im Westjordanland, das zweite Kernthema im Palästina-Israel-Konflikt. Als explizit jüdische Siedlungen sind sie integraler Bestandteil der israelischen Apartheid, ein rassistisches Werkzeug der „Judaisierung Palästinas“ – und in meinen Augen das größte Hindernis zu einem gerechten Frieden. Um eines klar zu sagen: jede jüdische Siedlung in den besetzten palästinensischen Gebieten ist illegal. Jede. Die Vereinten Nationen haben über die Jahrzehnte in vielen Resolutionen die jüdischen Siedlungen verurteilt und sich dabei stets auf die Genfer Konventionen berufen, die unzweideutig feststellen:

„Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.“

Jeder israelische Ministerpräsident, der den Siedlungsbau forciert, ist nach den Genfer Konventionen ein Kriegsverbrecher. Benjamin Netanyahu hat den Siedlungsbau wie kein anderer vorangetrieben, allein seit dem Osloer Friedensprozess 1994 hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland und Ost-Jerusalem auf über 600.000 weit mehr als verdoppelt – Benjamin Netanyahu ist damit ein internationaler Verbrecher.

Im Zusammenhang mit der systematischen Zerstörung palästinensischer Wohnhäuser lässt der permanente Ausbau der vorhandenen und der Bau gänzlich neuer Siedlungen die Fläche Palästinas jeden Tag ein Stück weiter schrumpfen, was zur Folge hat, dass das Westjordanland schon heute ein israelisches Meer ist, auf dem verstreute palästinensische Inseln schwimmen. Die von nahezu sämtlichen Akteuren weltweit als die Friedensformel proklamierte Zwei-Staaten-Lösung ist seit Jahren eine Farce, sie ist die zentrale Lüge im Konflikt. Denn es existiert schlicht kein zusammenhängendes Staatsgebiet mehr, auf dem Palästina gegründet werden könnte. Eine dauerhafte Lösung des Israel-Palästina-Konflikts steht und fällt mit der Siedlungsfrage.

Zusammen mit einem palästinensischen Freund fuhr ich einmal aus Versehen mit dem Bus nach Ariel hinein, der größten israelischen Siedlung im Kern-Westjordanland. Am Militärcheckpoint am Rande der Stadt hielt der Bus und wurde von zwei Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag auf Araber untersucht. Mein Freund hatte Glück: mit seiner hellen Haut, sah er nicht aus „wie ein Araber.“

Wirtschaftliche Apartheid

Die jüdischen Siedler haben jedoch kein Problem damit, palästinensische Arbeitskraft in ihren Siedlungen auszubeuten: offiziell mehr als 20.000 Palästinenser arbeiten unter militärischer Überwachung widerwillig in den israelischen Siedlungen, Tausende mehr ohne Genehmigungen, auch einige meiner Studenten in Nablus verdienen sich mangels Alternativen in den Sommerferien in den Siedlungen schwarz etwas hinzu. Der Zynismus, der dieser absurden Situation innewohnt, liegt auf der Hand, ein zermürbender innerer Kampf der politischen Überzeugung gegen die Notwendigkeit, Essen auf den Tisch zu stellen. So würden 82 Prozent der Arbeiter ihren Job in den Siedlungen sofort einstellen, gäbe es Alternativen zu Hause. „Alle Entscheidungen, die du unter der Besatzung triffst,“ erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin Hadeel Badarni, „basieren ausschließlich auf wirtschaftlichem Überleben, nicht auf kollektiver Selbstbestimmung.“ Doch 50 Jahre israelische Besatzung – einhergehend die systematische Zerstörung von Infrastruktur und Ressourcen (etwa die millionenfache Brandrodung und Entwurzelung der so lebenswichtigen Olivenbäume), der tagtägliche Raub von Land und Wasser, das oft eingesetzte Abstellen von Strom, Telefon, Wasser oder Internet als Kollektivbestrafung, die unerträgliche Einschränkung der Transport- und Bewegungsfreiheit durch das dichtmaschige Netz aus Straßensperren, Checkpoints und Militärbasen, die Kontrolle über die palästinensischen Steuereinnahmen, und insbesondere die Schikanen und Diskriminierungen der israelischen Behörden auf sämtlichen Gebieten – halten die palästinensische Wirtschaft am Boden, die ohne die Besatzung heute etwa den doppelten Entwicklungsstand hätte, wie 2016 ein UN-Bericht ergab.

Ein Thema, das mir persönlich besonders am Herzen liegt, sind die quer über das Westjordanland verstreuten israelischen Industrieanlagen, so forschten wir an der An-Najah University in Nablus speziell über die Auswirkungen des Chemiekomplexes Nitzanei Shalom auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen des Westjordanlands. Hunderte palästinensischer Arbeiter sind gezwungen, dort unter miserabelsten Bedingungen zu arbeiten. Denn sämtliche Firmen des Chemiekomplexes sind zwar israelisch, es patrouillieren israelische Soldaten und sämtliche Gewinne fließen nach Israel ab, doch sind die Arbeiter unter dem Arbeitsrecht von Jordanien von 1967 angestellt – ein absurder juristischer Trick, dessen sogenannte „Rechtmäßigkeit“ israelische Gerichte jüngst bestätigten.

Während innen nicht vorhandene Sicherheitsmaßnahmen die Arbeiter durch den ungeschützten Umgang mit hochgiftigen Chemikalien krank werden lassen, sind es außen nicht vorhandene Umweltschutzmaßnahmen, die auch die gesamte umliegende Bevölkerung der schönen Stadt Tulkarem krankmachen. Die israelischen Fabriken vergiften das Grundwasser mit Schwermetallen, ebenso die Böden, was die Landwirtschaft unmöglich macht. Hochgiftige Abgase werden unbehandelt in die Luft geblasen. Die Krebsraten sind um ein Vielfaches höher. Mitglieder jeder Familie der Nachbarschaft leiden unter Lungen-, Haut- und Augenkrankheiten. Als wir an den meterhohen Mauern der Fabrik vorbeiliefen, spürte ich in Rachen und Lunge den stechenden Schmerz der Säure in der Atemluft. Auf der anderen Straßenseite spielten Kinder.

Die allermeiste Zeit des Jahres bläst der Wind gen Osten – und die hochgiftigen Abgase auf die palästinensische Seite. Die paar Tage im Jahr, in denen der Wind in Richtung Israel dreht, werden die Fabriken heruntergefahren und stehen still – auch das ist Apartheid.

Uns fehlt der Mut

Zu den hier angesprochenen Aspekten kommt eine Vielzahl weiterer, die das Gesamtbild der israelischen Apartheid zeichnen. Vor allem das israelische Rechtssystem, das eine Bandbreite an vorteilhaften Gesetzen explizit für Juden bereithält. Oder der immanente Rassismus der israelischen Behörden, der sich besonders im Krisenzentrum Jerusalem offenbart, wo Palästinenser oft exorbitant hohe Abgaben und Steuern auf ihre eigenen Häuser zahlen müssen. Es ist ihr undefinierter völkerrechtlicher Status, der etwa Auslandsreisen für viele Palästinenser unmöglich macht. Psychologisch ist es die tagtägliche Demütigung als Menschen zweiter Klasse zu leben. Es gibt die völkerrechtswidrige meterhohe „Apartheid Wall“, die tief in das Westjordanland reinschneidet und so Palästinensergebiete annektiert. Und in der Politik ist es natürlich die rechtsextreme zutiefst rassistische Netanyahu-Regierung – die ideologische Inkarnation der Apartheid –, deren Verteidigungsminister illoyalen Arabern „mit einer Axt den Schädel abschlagen“ will oder deren Justizministerin offen zum Genozid an den Palästinensern aufruft.

Es ergibt sich recht schnell ein Bild, das erkennen lässt, dass die Autoren des vermeintlich so brisanten UN-Berichts, Richard Falk und Virginia Tilley, richtig liegen mit ihrer Analyse, Israel sei ein Apartheidstaat. Dass dieser historische Bericht nun in den Mülleimern der UN-Zentrale in New York liegt, ist eine Schande, sowie ein Anzeichen für mangelnde Aufrichtigkeit und mangelnden Mut, die Dinge beim Namen zu nennen.

Falk und Tilley erhofften sich durch ihre klaren Worte, das Thema Israel-Palästina wieder stärker ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu rücken und so die internationale Gemeinschaft aus supranationalen Organisationen, Staaten, Religionen, der Zivilgesellschaft und Einzelpersonen zum Handeln anzuregen und sie an ihre Verpflichtungen zum Kampf gegen das Menschheitsverbrechen der Apartheid zu erinnern – explizit in historischer Analogie zur Überwindung der Apartheid in Südafrika in den 1990er Jahren. Mit vielfältigen, kreativen Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft wurde die jahrzehntelange Apartheid in Südafrika zu Fall gebracht – darunter Wirtschafts- und kulturelle Sanktionen, Abzug von Auslandsinvestitionen, Ächtung von Rassismus als Staatsfundament, Handelsboykotte, sowie politischer Druck auf sämtlichen Ebenen.

Mit ähnlichen kreativen – bedingungslos gewaltfreien! – Mitteln wird auch das schändliche Apartheid-Regime in Israel zu Fall gebracht.

Was uns fehlt, ist Mut.

Dieser Beitrag erschien auch auf Jakobs Blog JusticeNow!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Reimann

Auf meinem blog justicenow.de setze ich mich kritisch mit den Themen Kapitalismus, Krieg und Rattenschwanz auseinander. Herrschaftsfrei, gewaltfrei!

Jakob Reimann

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