Vom kaltblütigen Mörder zum Nationalhelden

Elor Azaria Die Geschichte des israelischen Soldaten dient als Brennglas auf den allgegenwärtigen Militarismus und erdrückenden Rassismus im Land.

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ACHTUNG! Dieser Artikel enthält Videomaterial, das eine Hinrichtung zeigt und als verstörend empfunden werden könnte.

Am Morgen des 24. März 2016 laufen die beiden Palästinenser Ramzi Qasrawi und Abdel Fattah a-Sharif auf eine Kreuzung im völkerrechtswidrig besetzten Hebron im Westjordanland und greifen zwei patrouillierende israelische Soldaten mit Küchenmessern an. Einer der beiden Soldaten erleidet leichte Verletzungen, die beiden Attentäter werden niedergeschossen.

Elf Minuten später ist Qasrawi tot, während a-Sharif nach Schüssen in Arm, Schulter, Bauch und Unterkörper regungslos – jedoch lebendig – am Boden liegt. Bis hierhin kann das Verhalten der israelischen Soldaten als Notwehr ausgelegt werden und bewegt sich im Rahmen der Legalität.

Auftritt Elor Azaria

Dann betrat der damals 18-jährige Sergeant Elor Azaria die Szene. Der Militärsanitäter nähert sich nach Erstversorgung seines Kollegen dem schwer verletzten Attentäter a-Sharif. Kalkuliert und entschlossen lädt Azaria sein Gewehr durch und exekutiert den am Boden Liegenden mit einem gezielten Kopfschuss aus wenigen Metern.

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Da keinerlei Gefahr vom schwer verletzten a-Sharif ausging, war der Kopfschuss keine legitime Notwehr, sondern ein Verbrechen. Folgen wir der Annahme, dass Palästisrael ein Kriegsgebiet ist, handelt es sich um ein Kriegsverbrechen.

Da es unzweideutige Videoaufzeichnungen des Mordes gab, die von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem veröffentlicht wurden und sich ob der Kaltblütigkeit des Gezeigten schnell ihren Weg in die Weltöffentlichkeit bahnten, sah sich die israelische Justiz gezwungen, den Mörder Elor Azaria vor Gericht zu stellen – eine absolute Rarität in der israelischen Militärgerichtsbarkeit.

(Auch der zweite Attentäter, Ramzi Qasrawi, der im B’Tselem-Video bereits tot ist, wurde laut Aussage mehrerer Augenzeugen aus nächster Nähe mit zwei Kugeln in den Kopf hingerichtet. Ein kurz im Anschluss dieses Mordes gefilmte Video zeigt die Leiche mit einer Blutlache unter dem Kopf. Da es von diesem mutmaßlichen Mord jedoch keine Aufzeichnungen gibt, weist das Militär die Vorwürfe kategorisch von sich und Qasrawis Mörder wurde folglich nie angeklagt.)

Elor Azaria wurde schließlich wegen Totschlags vor Gericht gestellt und zu 18 Monaten Haft verurteilt. Generalstabschef Gadi Eizenkot verkürzte die Haft auf zwölf Monate und Azaria saß wegen guter Führung letztendlich neun Monate im Gefängnis.

Um die Verhältnismäßigkeit dieses Urteils ins rechte Licht zu rücken, ein kurzer Blick auf Ahed Tamimi – jene palästinensische Teenagerin, die ebenfalls weltweite Bekanntheit erlangte und deren Fall sich zeitlich mit dem von Elor Azaria überschnitt. Kurz nachdem ihr jüngerer Cousin Mohammed von israelischen Soldaten aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen wurde, wurde die damals 16-Jährige Ahed gefilmt, wie sie einem bewaffneten israelischen Soldaten, den sie von ihrem Grundstück vertreiben wollte, ins Gesicht schlug.

Für diese Ohrfeige wurde die Palästinenserin Ahed zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, während der Israeli Azaria für die Hinrichtung eines reglos am Boden Liegenden neun Monate saß – Unrechtsjustiz im Apartheidstaat Israel.

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Ahed Tamimi saß für eine Ohrfeige acht Monate hinter Gittern, während Elor Azaria für eine Hinrichtung neun Monate saß. Ahed hier am 26. Juli 2017 auf der EU-Konferenz: The Role of Women in the Palestinian Popular Struggle.

Azaria – der Held, der Mentor, der Posterboy

Das Urteil gegen Elor Azaria spaltete die israelische Gesellschaft. Die Rechte stilisierte ihn zum Nationalhelden und forderte seine Freilassung. Mehrere Richter wurden mit dem Tode bedroht und mussten unter Polizeischutz gestellt werden. Neben einigen Ministern der rechtsextremen israelischen Regierung, die ihre bedingungslose Solidarität mit Azaria kundtaten, forderte auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Begnadigung des jungen Soldaten.

Zumeist von der ultrareligiösen Rechten wurden in Solidarität mit Elor Azaria Massendemonstrationen organisiert. „Tod den Arabern!“ wurde ebenso frenetisch skandiert wie „Elor, unser Held.“

„TÖTET SIE ALLE“ als unmissverständliche Forderung des Mobs:

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Nach seiner Freilassung im vergangenen Mai wurde Azaria endgültig zum israelischen Helden – zum A-Promi, der im Luxus lebt, wie das israelische Magazin Mako berichtet. Nachtclubs in Tel Aviv stoppen die Musik, wenn er den Laden betritt und lassen ihn von der Menge bejubeln; er darf die Beats bestimmen, all seine Drinks gehen aufs Haus, seine Freunde erhalten Discount. Im Land wurden Werbetafeln mit Azarias Konterfei aufgestellt. Es gibt sogar Buch- und Filmangebote, seine Geschichte zu verarbeiten. Unter Soldaten ist er ein gefragter Mann, ein Berater. „Viele Soldaten sehen in ihm eine Art Mentor“, sagt ein guter Freund von Azaria über den 22-Jährigen. „Elor gibt ihnen Ratschläge für ihren Dienst in den [besetzten Palästinenser-] Gebieten.“

Nach seiner Freilassung besuchte Azaria mit seinen Eltern den Tatort in Hebron im Viertel Tel Rumeida – eine illegale israelische Siedlung – und wurde von den zumeist rechtsextremen, ultrareligiösen Siedlern wie ein Rockstar empfangen und gefeiert. Auch mehrere Minister instrumentalisierten das Medienspektakel um Azaria und überschütteten ihn mit Lobesreden und forderten, sein Führungszeugnis solle gelöscht werden.

„Eine Regierung, die abscheuliche Mörder mit offenen Armen begrüßt und deren Freilassung feiert“, kommentiert hingegen die Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Sliman von der Vereinten Liste, „ist eine Regierung, die neuen Boden bereitet und grünes Licht gibt für den nächsten Mord.“

Azarias „heutige Freilassung sendet die erschütternde Botschaft, dass palästinensisches Blut billig ist.“

In einem makabren PR-Stunt machte Jaron Mazuz, stellvertretender Umweltschutzminister Israels, Elor Azaria zu seinem Maskottchen für die Vorwahlen der Likud-Partei, der rechtsextremen Regierungspartei Netanjahus. In einer Posterkampagne zeigte sich Mazuz neben dem grinsenden Azaria, der einen bezahlten Job in Mazuz‘ Wahlkampfteam erhielt. „Ich sitze neben meinem Freund Elor Azaria“, erklärt Mazuz in einem Wahlvideo, in dem Azaria kein einziges Wort sagen, nur grinsen durfte. „Und mit Gottes Hilfe, zusammen mit ihm [Azaria], werden wir erfolgreich sein.“

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Doch weder „Gott“ noch die wohl potentere Wunderwaffe Elor Azaria nutzten Mazuz allzu viel: Nach bescheidenem Abschneiden bei der Wahl für die Parteiliste am vergangenen Dienstag wird er bei den Knesset-Wahlen im April wohl seinen Parlamentssitz verlieren.

Das Brennglas auf Israels Gesellschaft

Es mag befremdlich und bizarr anmuten, einen wohldokumentierten, kaltblütigen Mörder als dümmlich dasitzendes Wahlmaskottchen zu instrumentalisieren. Wäre etwa Obama 2006 mit den Damen und Herren von den Abu-Ghraib-Folterbildern auf Wahlkampf gegangen, käme dies dem hier Beschriebenen wohl relativ nahe.

Doch Israels Politik folgt einer militaristischen Logik, nach der Mord an Palästinensern kein Makel in der eigenen Vita ist, sondern eine Medaille, die mit Stolz getragen wird. Auch sind Hinrichtungen von verwundeten Palästinensern im Tagesgeschäft israelischer Soldaten keine Ausnahme, sondern vielmehr die gängige Praxis der israelischen Armee, wie Eliyahu Liebman, ein in den illegalen Siedlungen im Westjordanland tätiger Sicherheitschef, zur Verteidigung von Elor Azaria in dessen Gerichtsverfahren ohne ein Blatt vor dem Mund erklärt: „Um sicher zu gehen, wird ihnen in den Kopf geschossen“, lehrt die israelische Armee ihre Rekruten bereits in der Ausbildung, so Liebman.

(Der Umstand, dass im B'Tselem-Video nach Azarias Kopfschuss niemand der umherstehenden Soldaten die kleinste Reaktion zeigte, stützt die Auffassung, dass sich hier etwas gänzlich Alltägliches zutrug.)

Neben dem Abmontieren öffentlicher Kameras in den besetzten Palästinensergebieten führte die Causa Elor Azaria – frei nach Plutarch, „Tötet den Überbringer der Nachricht“ – zu einem breite Unterstützung findenden Gesetzesvorhaben, nach dem es verboten werden soll, das israelische Militär bei ihren Aktionen zu filmen. Nach dem Gesetz wäre der Filmer von Azarias Kopfschuss mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft worden.

Nein, Elor Azaria ist nicht das Problem, er ist Symptom. Das Symptom der lähmenden Krankheit namens Militarismus, unter dem der damalige Außenminister Avigdor Lieberman unter Beifall öffentlich verkünden kann, er wolle illoyalen Arabern „mit einer Axt den Schädel abschlagen“, Justizministerin Ayelet Shaked offen zum Genozid in Gaza aufrufen und Bildungsminister Naftali Bennet mit Stolz sagen kann:

„Ich habe in meinem Leben schon jede Menge Araber getötet,
da ist absolut kein Problem dabei.“

Die Krankheit ist das Apartheid-Justizsystem Israels, in dem palästinensischen Jugendlichen für das Werfen von Steinen 20 Jahre Gefängnis drohen, während vor Elor Azaria seit 2000 nicht ein einziger Soldat wegen Totschlags – geschweige denn Mord – an den unzähligen ermordeten Palästinensern verurteilt wurde (ein Soldat aus der Beduinen-Minderheit wurde 2004 für den Mord an einem britischen Aktivisten wegen Totschlags verurteilt).

Mir liegt es fern, Elor Azaria persönlich diffamieren oder in Misskredit bringen zu wollen. Er war lediglich ein Kind, das am 24. März 2016 tat, was ihm von Politik, Militär und der israelischen Gesellschaft in ihrer Breite aufgetragen wurde. In meiner Zeit in Palästina und in Israel habe ich oft genug erlebt, wie unsichere 17/18-jährige Kinder durch das Maschinengewehr in ihrer Hand zu vor Selbstbewusstsein strotzenden Männern wurden (und Frauen sexuell belästigten, die sie sich in Zivil im Leben nicht getraut hätten, auch nur anzusprechen).

Die Geschichte des Elor Azaria ist das Brennglas auf die israelische Gesellschaft, die zerfressen ist vom Rassismus und den Hass auf „den Araber“ braucht, um Jahrzehnte der systematischen Unterdrückung Palästinas und das Abdriften in die Apartheid vor sich selbst rechtfertigen zu können – und in der die linken, progressiven, pazifistischen Kräfte derart impotent sind, dass sie kaum der Erwähnung wert sind.

Elors Geschichte ist die rationale Logik einer sich Jahr um Jahr radikalisierenden militaristischen Politik, die den Mord an Palästinensern fordert und fördert und ohne Kopf, Gewissen und Orientierung nichts anderes anzubieten hat als die strukturelle Gewalt gegen die Menschen in Palästina.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Reimann

Auf meinem blog justicenow.de setze ich mich kritisch mit den Themen Kapitalismus, Krieg und Rattenschwanz auseinander. Herrschaftsfrei, gewaltfrei!

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