Archaische Attitüde

#metoo Carolin Emcke fordert in ihrem exzellenten #MeToo-Debattenbeitrag „Ja heißt ja und …“ eine Phänomenologie der emotionalen Abhängigkeiten.

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Kommt ein Vorgesetzter im Bademantel an die Hotelzimmertür. So könnte ein Witz anfangen. Tatsächlich fängt so ein subalternes Elend an, dass im Zuge der #MeToo-Debatte auch ein mentalitätsgeschichtliches Merkmal aufdeckte; eine archaische Attitüde, die sich als Chefmarotte tarnte, so lange das möglich war. Und es war lange möglich.

Carolin Emcke, „Ja heißt ja und …“, S. Fischer, 96 Seiten, 15,-

Carolin Emcke setzt die Geschichte selbstverständlich in den #MeToo-Kontext. „Eine Frau, die sich weniger geschützt weiß (als der zur Feier des Übergriffs Halbentblößte), weil sie weniger verdient, weniger bekannt, weniger vernetzt, weniger sichtbar, weniger hörbar ist, erlebt das Hotelzimmer (in der skizzierten Konstellation) als Schauplatz heikler Manöver. Hellmuth Karasek erzählt in seiner Abrechnung mit dem Pressepatriarchen der alten Bundesrepublik, wie Rudolf Augstein leitende, ihrem Rang entsprechend gekleidete Angestellte im Bademantel empfing, gleichgültig gegenüber den eigenwilligen Verschiebungen des Gemächts.

Der Mächtige kennt keine Scham

Das war Verachtung. So äußerte sich Omnipotenz. Walter Benjamin spricht von der Schamlosigkeit des Mächtigen, die auch Martin Walser so beschäftigt, dass er wieder und wieder darauf zurückkommt, sich und seine Stellvertreter in der Unterlegenheit ausstellend und für die überlegene Position kein besseres Beispiel als Siegfried Unseld findend.

Unseld und Augstein repräsentierten als Gründerväter einen Herrschaftsstil, der noch nicht lange ausgedient hat. Als Emcke beim SPIEGEL ihren ersten Arbeitsvertrag erfüllte, wurden da noch in einer milden Form der Degradierung Frauen als Mädchen angesprochen. Emcke sollte sich damit abfinden. Als eine von zwei Frauen in ihrer Redaktion war sie massiv unterrepräsentiert.

Das ist jetzt alles anders. Emcke fragt: „Muss ich als Frau es für undenkbar halten, nicht als Objekt, als Ding, als verfügbarer, benutzbarer Körper gesehen und behandelt zu werden?“

Grundsätzlich gilt:

Verletzende Erfahrungen werden der eigenen Subjektivität eingeschrieben. Das Opfer baut eine persönliche Beziehung zum Täter auf. Es arrangiert sich in diesem Verhältnis und begreift Zumutungen als systemisch. Es glaubt: Das eine sei ohne das andere nicht zu haben. Übergriff und Täter scheinen zur (sichernden) Ordnung zu gehören.

Die Autorin schwankt zwischen furiosen Schilderungen, in der ein öffentlich onanierender Redakteur als Relikt einer untergegangenen Welt auftaucht, und analytischen Einlassungen. Emcke fragt nach dem Wesen der Macht.

Macht hat, wer ungestraft das machen kann, was er will.

Macht hat ein Pfleger, der sich an einer Wehrlosen vergreift, die seiner Fürsorge ausgeliefert ist. – Ein Geflüchteter, der seine (in den fremden Verhältnissen aufgeschmissene) Frau misshandelt, ohne Sanktionsrisiko. Macht haben Jugendliche, die eine, dem Gruppendruck erlegene Mitschülerin nötigen.

Es braucht eine Phänomenologie der emotionalen Abhängigkeiten

Emcke filtert die Virulenz aus alltäglichen Interaktionen, an denen vorderhand Ohnmächtige beteiligt sind, die sich intern in Täter und Opfer aufteilen. Sie setzt ein Gesellschaftsmikroskop ein, das jene Macht sichtbar macht, die ohne Zentrum und Strategie in Begriffen und Kodes wirkt, vor allem jedoch in der Verleugnung dessen, was immer und überall der Fall ist – in der Konsequenz eines sozialen Gefälles, dass es den einen erlaubt, sich über die anderen zu erheben.

Emcke postuliert ein Gegenmandat zu einer Praxis des Missbrauchs, die sich auf Normalität beruft.

Der Redakteur, der vor dreißig Jahren eine Kellnerin aus der SPIEGEL-Kantine in sein Büro rief, um sie da Obsessionen auszusetzen, berief sich auf eine Normalität, die uns abwegig erscheint. Emcke appelliert an unseren emanzipatorischen Elan. Es liegt an uns, sagt sie, was normal ist – was geht und was nicht geht. Let's get ready to rumble.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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