Aufbrechende Paare

Literatur anna stern, „das alles hier, jetzt.“ - Ananke ist tot. Das ist der Ausgangspunkt eines Erzählens überwiegend in der zweiten Person.

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Erzählen in der zweiten Person/Durchgehaltene Kleinschreibung

Zwei Erzählflüsse fließen so zusammen, als ergäbe sich das gemeinsame Bett in einer glücklichen Fügung und nicht aus einem narrativen Kalkül.

anna stern, „das alles hier, jetzt.“, Penguin Verlag, 236 Seiten, 12,-

Ananke ist tot. Das ist der Ausgangspunkt eines Erzählens überwiegend in der zweiten Person. Die Perspektive gestattet vitale Varianz. Das Du schillert so facettenreich wie ein Tropfen, den das Licht trifft. In seinen ursprünglichen Bedeutungen oszilliert Ananke im Zufallsspektrum zwischen Bedürfnis, Bindung und Not. Ananke taucht als Göttin auf. Goethe dichtet:

„Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. / So sind wir scheinfrei denn …“ Quelle

Die erzählende Instanz firmiert als Ichor.

„Mit dem Namen … wird in der griechischen Mythologie die Flüssigkeit bezeichnet, welche die Götter statt des Blutes der Menschen durchströmt.“ Wikipedia

Die mythologischen Zuschreibungen stammen von jenen, die als Ananke und Ichor in der Geschichte vorkommen. Farblich und räumlich von der Gegenwartsspur unterschieden: sind die Resultate einer recherche du temps perdu voller Fruchtgummis, Sonnenblumenkernen und schlechtem Gewissen. Ichor leidet unter dem Versäumnis einer unterlassenen Hilfeleistung.

Da steige ich ein, wo Ananke und Ichor prä-pubertär gemeinsam mit Freundinnen und Freunden zelten. Ichor kriecht „in taufeuchtes gras. Der tag ist noch nacht“. Er verschafft sich „zutritt zu anankes träumen“. Ananke tendiert zu disruptiven Lösungen.

In der Gegenwart ist Ichor untröstlich. Nach Anankes Tod möchte er neuen Erinnerungen keinen Raum geben. Er lebt mit Eden zusammen, die schon zur Kindheitsbande von Ananke und Ichor gehörte.

Verblasste maritime Ansichten - Ananke, eine französisch schreibende Enkelin von Bauern, lebte zuletzt auf einem meernahen Hof, auf dem Ichor nie war.

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Auf Ichors mehrstufigem Erinnerungsparcours dehnt sich die Handlungsgegenwart. Das Jetzt-Momentum datiert auf den Tag von Anankes Tod und auf die Tage danach. Es koinzidiert mit älteren Momenten so, dass ich mir den Abstand stets vergegenwärtigen muss. Ichor begleitet nicht, sondern begleitete Eden einst in eine Vorlesung, in der auf Englisch über Depressionen doziert wurde.

„in edens vorlesung lernst du die ausschlusskriterien für …“

„Die Obstbaumreihen auf der Rückseite des Hörsaals“ passten elegisch ins Bild.

Es gab eine Zeit gemeinsamer Vorlesungsbesuche auch mit Ananke. Ichor memoriert Anankes größeren Eifer. Erst jetzt bin ich sicher, dass die Autorin von einem aufgebrochenen Paar erzählt, das in einen heteronormativen Rahmen passt. Freundinnen und Freunde nannten Ichor „Weichei, Krüppel, Klumpfuß“. Einmal fragte Ananke, ob Ichor Kinder wolle. Sie „knöpfte (ihm) die Hose auf … (er ihr) das Hemd“.

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Zum ökologisch korrekten Einäscherungsprozedere gehört, „silikonimplantate (zu) rezyklieren“.

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Zum Schluss brechen die Freundinnen und Freunde von einst im „Adenauer“, einem antiken Benz, zu einem Abenteuer auf, das sie neu verbindet. Sie bringen sich in den Besitz jener Urne, die Anankes Asche birgt. Das folgt magischen Vorgaben.

Aus der Ankündigung

Ein rasend schönes und zutiefst menschliches Buch über Familie, Freundschaft und Verlust - ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2020

Ananke stirbt unerwartet und viel zu jung. Im Kreis der Freunde verbleibt eine unerträgliche Lücke, die sie durch Erinnerungen an die gemeinsame Zeit zu füllen versuchen: Sie denken zurück an die Erlebnisse in Kinder- und Jugendtagen, an wunderschöne Sommer, erste Konflikte – und die stetige Verbundenheit der gesamten Gruppe. Doch so sehr sie sich bemühen, der alles lähmende Schmerz bleibt. Bis sie zu einem gemeinsamen Roadtrip aufbrechen, mit einem ganz klaren Ziel vor Augen …

Auf stilistisch so einzigartige wie geniale Weise kontrastiert Anna Stern in kurzen Fragmenten das Jetzt mit der Vergangenheit und lässt dadurch den Schmerz in jeder Zeile spürbar werden.

»Stern betont mit ihrer Erzählweise das Unausgesprochene und erzeugt so eine bedrückende Atmosphäre der Sprachlosigkeit, die man beim Lesen beinahe körperlich spürt.« Christel Wester, Deutschlandfunk

Zur Autorin

Anna Stern, geboren 1990, lebt und arbeitet in Zürich. Für ihre Werke erhielt sie vielfache Auszeichnungen, unter anderem den 3sat-Preis der 42. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sowie den Schweizer Buchpreis 2020 für ihren Roman »das alles hier, jetzt.«.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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