Außenposten des bekennenden Unbehagens

Mely Kiyak erhält den Kurt-Tucholsky-Preis 2021

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Unter der maßlosen Überschrift „Hundert Jahre Mely Kiyak“ versammelte sich einst die Gorki-Familie auf der Studio Я Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters an einer langen Tafel, um die hundertste Kolumne ihrer Lieblingskolumnistin zu feiern. Hausherrin Shermin Langhoff verkündete: „Für euch habe ich New York sausen lassen.“ Ihre Gorkis seien wichtiger als Trallala in Amerika. Es saßen zusammen (zu sehen auf dem Tafelbild) von links: Max Czollek, Necati Öziri, Mely Kiyak, Margarita Tsomou, Sasha Marianna Salzmann, Deniz Utlu und Mehmet Yılmaz.

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Auf einen Außenposten des bekennenden Unbehagens

„Eine Kolumne ist wie eine Zwiesprache ohne Gegenüber und die am meisten journalistische aller literarischen Gattungen“, sagt Mely Kiyak.

Man müsse sich von „Diskurssprache“ freimachen, um Kolumnen so schreiben zu können. Die Kolumnistin behauptet erkennen zu können, ob jemand auch liest, oder ob er nur schreibt. Ihre Texte sind jedenfalls Lektüre-Derivate.

„Ich lese alles.“

„Es gibt kein Schreiben ohne Lesen.“

Kiyak zieht sich auf einen Außenposten des bekennenden Unbehagens zurück. Sie tritt nicht gern auf. Dabei ist sie schlagfertig.

Nach einer Kiyak-Melodie:

„Worin man uns deportieren wird? Doch diesmal gewiss nicht in den Viehwagen der Deutschen Bahn.“

Das Gorki ist eine Art Asylheim mit Theater-AG. – Ein Scharia Schtetl mit eingemotteter FlixBushaltestelle, an der bei Inbetriebnahme indigene Iphigenien das Schicksal der Vergeblichkeit ereilen wird. Sie dürfen nicht mit, wenn die Deportationen in den grünen FlixBussen losgehen.

Auch schön:

„Diese Nazis sind gegen Inklusion, brauchen aber zum Arschlochsein unsere Hilfe.“

*

Feudelarmee - Meine Besprechung des ausgezeichneten Titels

„Was es über uns zu berichten gab, wurde fremderzählt.“

Sie erlebt sich als Gegenstand von Zuschreibungen. Ihr Subjektstatus wird negiert. Sie kratzt höchstens mit ihrer kleinen Kritik an den Oberflächen der Objektivierung.

Sie wird gedacht.

Günter Wallraff maßt sich die Rolle des Generalerzählers der Einwanderungsgeschichte als Epochentext an. So setzt sich die deutsche Suprematie überall da durch, wo es was zu holen gibt. Selbstverständlich lobt man Wallraff für sein Einfühlungsvermögen und für die realistische Darstellungskraft. Das Degoutante dieser Ali-Travestie verliert sich in den Registern der Mehrheitsgesellschaft. Da wird der Wert des Manövers festgestellt in Geld. Die Exploitation des kulturellen Mehrwerts ließe sich heute als illegitime Cultural Appropriation easy canceln.

Mely Kiyak, Frausein, Hanser, 127 Seiten, 18,-

Die Autorin verweist auf eine Kofferkindheit* an allen möglichen Rändern ... unter anarchisch-archaischen Umständen.

Die Mutter reiht sich in das Heer jener ein, die in den Amtsfluren aufkreuzen, wenn die Herrschaften Feierabend haben. Sie gehört zur Feudelarmee aus dem Kontingent der Verfügbaren, die dankbar sein sollen, Deutschland putzen zu dürfen. Manchmal begleitet das erzählende Ich die Mutter an die Front der Degradierung. Das Mädchen rührt einen altmodischen Amtsrichter so sehr, dass er seine teewurstigen Frühstücksbrötchen rituell abtritt. Er institutionalisiert die Almosenabgabe. Er gießt sie in einen bigotten Akt der Barmherzigkeit. Die Mutter sackt die verschmähten Schrippen ein und zwingt ihre Kinder zum Verzehr der üblen Wohltaten.

„Die Wurstbrötchen waren eine Herausforderung.“

Erziehung bedeutet „Unterordnung bis hin zur Unterwerfung“.

Mely Kiyak exponiert den wesentlichen Punkt. Dass die Mutter zwar Höflichkeit walten ließ, aber keinesfalls Höflichkeit erwartete. Ihr reichte der gute Wille des alten Tölpels, der keinen Schimmer hatte, wie anmaßend seine Unwissenheit war. Die Tochter wundert sich retrospektiv, dass der Mutter das Bedürfnis abging, sich zu erklären und ihre „Verhältnisse geradezurücken“.

Pittoreske Zurückhaltung

Gewiss, man war arm, bedürftig war man jedoch nicht.

Kiyak klärt die pittoreske Zurückhaltung der Mutter als Aspekt eines Konditionierungsvorgangs. Die Debütantin wurde in die trotzlose Hinnahme von Fremdzuschreibungen eingewiesen. Die Selbstwahrnehmung war ein Kassiber - ein Untergrundmedium.

Kiyak beschreibt, wie Selbsterniedrigung aka blinde Zustimmung gelehrt und geübt wird. Überschreitungen der einschlägigen Schamgrenzen sind der Heranwachsenden nur erlaubt bei körperlichen Übergriffen, als Jungfrauenprotest im Geist einer rigiden Reinheitserhaltung. Kiyak setzt dann das Szenario des Widerstands (der Selbstbewahrung) auch bei allgemeineren Gelegenheiten ein. Ihr Nein avanciert zu einer verstörenden Instanz. Es reagiert stets analytisch auf einen konkreten Vorfall, greift aber alles Mögliche wie mit Baggerschaufeln auf. Wer auf ein Nein stößt, endet an Verteidigungslinien.

„Mit jedem Protest verausgabte ich mich bis zum Äußersten.“

Die Autorin isoliert sich. Durch die Schranken ihres Alleinseins gelangt sie nur mit Lampenfieber.

...

Sie wird zur Schrift erzogen. In ihrem Koordinatensystem ist „das Putzfrauensein … der Referenzpunkt für alles“. Da sind solche, die sich nicht zu erheben vermochten, und jene, die ein Geheimnis zu wahren wissen und „deren Haar noch am Abend“ nach der Distinktion einer leichten Tätigkeit riecht.

Lauter Solistinnen fädeln sich auf dem Parcours der Bildungselite ein. Es gibt keinen Schulterschluss der Selbstermächtigten. Jede zieht ihr Ding allein durch, während sich Deutschland um den Hals fällt. Die überwundene Teilung erzeugt eine revolutionäre Stimmung, die den Sturmspitzen der Minderheiten abgeht.

Es ist ein Verdienst der Autorin, darauf hinzuweisen: hier der deutsche Einheitstaumel mit einem Feuerwerk des Rassismus und da die migrantische Vereinzelung mit der Emanzipation als Virtuos*innenleistung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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