Bestie Mieter

Kino High-Rise - Ben Wheatley verfilmt James Graham Ballards negative Utopie einer “vertikalen Stadt” mit abstürzenden Fahrstühlen und gigantischem Müllvorkommen

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Ein Bewohner stürzt aus dem 39. Stock, ohne dass danach auch nur ein Streifenwagen aufkreuzt
Ein Bewohner stürzt aus dem 39. Stock, ohne dass danach auch nur ein Streifenwagen aufkreuzt

Foto: Screenshot, Youtube

Vierzig Stockwerke liefern den Handlungsraum. Es gibt Schwimmbäder, Supermärkte, einen Kindergarten, einen Reitstall, eine Schule und eine steile Hierarchie im Haus. Die Reichen kommen dem Himmel und einer Regierung am nächsten. Unter ihnen residiert der Wohlstand über Waben mit durchschnittlichem Zuschnitt. Die Mieter unterschreiten pausenlos verkehrsübliche Abstände. Sie drehen und verdrehen sich in einem sektiererischen Spektakel der freiwilligen Gruppenisolation, während der häusliche Versorgungshintergrund kollabiert.
Die Kollektivierungen führen nicht zu einer pazifischen Gemeinschaft, sondern direkt in die Brutalität. Mieter rotten sich zusammen, sie orientieren sich an der konkreten Nachbarschaft. Etagen treiben Stämme aus. Der soziale Status bestimmt den Stressgrad im Kampf um innerweltliche Ressourcen. Das Außen verliert rasant an Bedeutung.

Das ist die Spielanordnung in James Graham Ballards von Ben Wheatley verfilmtem Roman “High Rise”. Ballard beschreibt den Block als “vertikale Stadt”. Erdacht und erbaut von dem Architekten Anthony Royal, der nun von oben herab mit morbidem Vergnügen den Verwerfungen in seiner Sphäre Vorschub leistet.

In Wheatleys Adaption spielt Jeremy Irons den Magnaten auf dem Dach einer Welt. Seine Inszenierung einer Dystopie lässt mich an die kosmische Klospülung in Douglas Adams’ galaktischer Hitchhiker-Halluzination denken, an ein ununterbrochenes Fortspülen mit gurgelndem Vorspiel und zügigem Abgang. Nur ganz oben kann man alles unter sich lassen. Der Aberwitz verrutschender Wohltätigkeit und guter Absichten lässt sich mit einem Wort von R.D. Laing bemänteln: “Der Verzicht auf Ekstase ist ein Verrat an unseren wahren Möglichkeiten”.

Der Held des Geschehens heißt nicht zufällig wie der Antipsychiatrie-Aktivist. Dr. Robert Laing landet nach einer Scheidung als Neumieter im rauschenden Untergang der titanischen Wohnmaschine. Die Koryphäe schult angehende Chirurgen. Laing glänzt im Obduktionssaal und auf dem Balkon, wo ihn eine angenehm überraschte Charlotte Melville (Sienna Miller) als “Prachtexemplar” identifiziert. Laing dürfte sofort bei ihr einziehen. Im weiteren Verlauf zeigt er sich überlebensfähig in einem Bürgerkrieg, der jederzeit von außen beendet werden könnte. Doch kein Mensch ruft die Polizei. Laing kommt auf den Hund als vandalischer Sieger. Die Sinnlosigkeit seiner Triumphe erinnert mich an die Fragwürdigkeit des von Cormac McCarthy in der “Straße” beschriebenen Überlebenswillen in einer toten Welt.

Der Verzicht auf zivile Einengungen wird zum finsteren Fest der Anarchie. Tom Hiddleston spielt den distanzierten Mediziner leicht weggetreten im Veitstanz. Sein Gegenspieler ist der urwüchsige, unkontrollierte und mordbereite Richard Wilder (Luke Evans). Der Dokumentarist sieht einem Barbaren sehr ähnlich. Sichtlich genießt er den Zusammenbruch der Ordnung. Seine Frau Helen steht kurz vor der Niederkunft, Richard gräbt Charlotte in einer moralischen Dunkelkammer an.

High-Rise, GB 2015, Regie: Ben Wheatley, mit Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Keeley Hawes

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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