Bluespolitik

ibf/Rassismus Gestern Abend sprach Deniz Utlu mit Miriam Mandelkow und Temye Tesfu im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals über James Baldwins zuerst 1963 erschienene ...

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Gestern Abend sprach Deniz Utlu mit Miriam Mandelkow und Temye Tesfu im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals über James Baldwins zuerst 1963 erschienene Essaysammlung „Nach der Flut das Feuer“.

Eingebetteter Medieninhalt

Widerstand und Spiritualität

Auf der Suche nach einem Englisch eigener Provenienz, einer vom weißen Herrschaftstext nicht restlos durchdrungenen und verseuchten Sprache, einer emanzipatorischen Sperre vor dem geschundenen Selbst, einem Refugium von Widerständigkeit und Spiritualität, einem Schwarzen Hafen jenseits der Kontinente Henry James, Walt Whitman und William Shakespeare, gelangte James Baldwin (1924-1987) zu den Quellen des Blues in einer Vorhölle des Gospels: den Spirituals. Kurioserweise geschah dies in der Schweiz. Der von Elijah Muhammad (Nation of Islam) umworbene, verhinderte Pfarrer …

Elijah Muhammad sagte: „Alle Weißen sind Teufel.“

… kam in der Verfassung eines Debütanten nach Leukerbad im Wallis. Er hatte wenig mehr dabei, als eine Schreibmaschine und zwei Bessie-Smith-Platten. Aus seinen Beobachtungen vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel in einem auf Fremde, nicht jedoch auf Schwarze Fremde eingestellten Dorf zog Baldwin weitreichende Schlüsse. In den staunenden Europäern erkannte er den Urgrund der amerikanischen Verachtung. Er begriff, dass es möglich war - dass es im XX. Jahrhundert möglich war - dass es nach dem Schwarzen Blutzoll in zwei Weltkriegen möglich war, Schwarze nicht als Menschen zu begreifen. Irgendwo erwähnt Baldwin, wie Schwarze GI’s nicht umhin kommen zu bemerken, dass ihre selbstverständlich weißen Vorgesetzten deutsche Kriegsgefangene besser behandeln als die Schwarzen Waffenbrüder. Das alles und noch viel mehr veranlasste Baldwin, eine weiße Unschuld anzunehmen. In diesem Kontext sind Weiße außerstande, sich selbst zu reflektieren. Deshalb können sie nicht erwachsen werden. Dazu gleich mehr.

Der Motherless-Child-Komplex

Der frühe Sacro-Pop vokalisierte auf seiner Frontlinie das Sklavenelend und spiegelte da die Herrschaftsverhältnisse, so dass weiße Zuhörer*innen geblendet wurden. Ihnen entging jene doppelte Subversion, die das Genre für Baldwin so brauchbar machte, dass er viele Überschriften diesem Fundus entnahm. Ein zentraler Titel heißt in der Übersetzung „Nach der Flut das Feuer“ und im Original „The Fire Next Time“. Wikipedia sagt: „The Fire Next Time is a 1963 non-fiction book by James Baldwin. The book‘s title comes from the couplet God gave Noah the rainbow sign / No more water but fire next time in Mary Don‘t You Weep, a N… spiritual.“

Aus der Ankündigung

James Baldwin war zehn Jahre alt, als er zum ersten Mal Opfer weißer Polizeigewalt wurde. In »The Fire Next Time« von 1963 verarbeitet er Erfahrungen wie diese. Der Essayband wurde schnell zum Schlüsseltext zeitgenössischer Rassismus-Diskurse und etablierte Baldwin als Essayist von Weltrang.

Über das Werk sprach Deniz Utlu mit Miriam Mandelkow und Temye Tesfu im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals. Mandelkow verdankt sich die Übersetzung. Sie rettete den Titel vor dem Verlagsvorschlag: Nach der Flut kommt das Feuer. Allein solcher Informationen wegen lohnt es sich, bei jeder gehobenen Gelegenheit zuzuhören. Sprache bringt das Verborgene zum Vorschein. Jede Veranstaltung hat Aufdeckungscharakter, selbst wenn sie das Gegenteil bewirken soll.

Mandelkow stellte gleich klar, dass sie das von Baldwin politisch eingesetzte N-Wort weder im Passagenvortrag noch in der zitierenden Einlassung zu verwenden bereit ist. Diese Klarheit schafft(e) einen Filter. Jede(r) Weiße, die/der jetzt noch das N-Wort verwendet, ist ein(e)Rassist(in).

Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen. Der Spiritual war auch ein Medium der Oral History. Er transportierte Informationen über den Familienstand und exponierte eine Marke im vielfach zerrissenen Familiengefüge: die/der Waise und die unter anderen Voraussetzungen elternlos Aufwachsenden. Das ist der Motherless-Child-Komplex. Zugleich stellte sich die Übernahme der weißen Religion auch als Selbstverteidigung dar. Christianisierte Sklaven überwanden die Nutztierstufe. Sie ließen sich nicht mehr von allen Aspekten der christlichen Brüderlichkeitsgebote getrennt wahrnehmen.

Die Religiosität wurde also nicht nur von Paradieserwartungen angestachelt. Der Glaube half zu überleben. Im religiösen Gesang verbarg sich aber auch eine – Eingeweihten vorbehaltene - Gesellschaftskritik. Man ordnete Eigenschaften der Baumwollbarone biblischen Gestalten zu.

Call and response

Der Spiritual hatte Kassiber- und Entlastungsqualitäten und zudem eine enorme Reichweite. In den Afroamerikanischen Gemeinschaften wurde die Rekurse stets verstanden. Das erklärt, weshalb Baldwin in den Vereinigten Staaten nie aus dem Kanon gekippt ist, während in Deutschland sein Werk gerade wiederentdeckt werden muss.

Temye Tesfu beschrieb, in welchem Ausmaß Baldwins Anspielungen im historischen Kontext bedeutungsträchtig sind. Die Held*innen der Bürgerrechtsbewegungen befleißigten sich der gleichen Diktion. Man trieb Bluespolitik und sagte Jazz dazu. Im Tonfall einer Predigt ließen sich radikale Ansagen weich durchfädeln.

Mandelkow, Tesfu und Utlu waren sich einig: Der afroamerikanische Kanon beginnt mit Plantagenliedern und einer afrikanischen Auffassung der Frohen Botschaft.

In der Unschuld liegt das Verbrechen

Am Anfang steht Baldwins Brief an einen Neffen und Namensvetter; verfasst anlässlich eines Pubertätsgeburtstages sowie des hundertsten Jahrestages der Sklavenbefreiung, den der alte Abe L. allein mit Gott ausgemacht hat. Er manifestiert sich in einer Proklamation vom 1. Januar 1863.

Baldwin kontert:

„Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh.“

Er warnt den jungen James, „zu glauben, was die Weißen über ihn sagen“. Die Lebensumstände des Neffen vergleicht der Onkel mit Londoner Zuständen im 19. Jahrhundert, so wie sie von Charles Dickens beschrieben worden seien. Die Ignoranz der Weißen bezeichnet er als „Unschuld – In der Unschuld liegt das Verbrechen“.

„Deine Landsleute wissen nicht, dass es dich gibt … Deinem Streben sollen für alle Zeiten Grenzen gesetzt sein.“

Paradox rät er zu einer Akzeptanz der Verbrecher*innen.

„Die Weißen sind deine jüngeren Brüder … Solange (sie) nicht frei sind, können wir es auch nicht sein.“

Mandelkow findet die Analyse (trotz vermeintlicher Nachgiebigkeitspostulate) „bitterböse und messerscharf“.

Tesfu hob Baldwins „emotionale Genauigkeit“ hervor.

Die Präzision universalisiert das Werk.

„Klar und ruhig“ erschien Tesfu die Prosa des Vorbilds, so „poetisch wie pointiert“. Wo Mandelkow „Wut und Versöhnung“ annahm, erklärte Tesfu im Präsenz der Unsterblichkeit: „Baldwin geht es nicht um Versöhnung.“

Das Idol verwendet gewisse Begriffe gongfu’esk. Baldwin weiß, „der Schwarze ist die Schlüsselfigur der USA.“ Wenn er den Feind mit Liebe dazu zwingen will, sich selbst zu erkennen (vor sich selbst zu erschrecken), treibt ihn kein Altruismus. Die Liebe ist nicht versöhnlich. Sie ist, wie Lotta Elstad in dem Roman „Mittwochs also“ bemerkt, schiere Gewalt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden