Das Laufband der Welt

Deutsch-Israelische LT Die 13. Deutsch-Israelischen Literaturtage fragen nach Chancen globaler Gerechtigkeit.

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In Clemens Meyers 2017 erschienenen Erzählband Die stillen Trabanten erschöpfen sich Leute in nächtlichen Szenen auf dem Laufband der Welt wie in einem kosmisch-kaputten Vorstadtfitnesscenter mit flackernden Röhren. Jeder hat einmal die Kirche um sein Daseinsdorf getragen und Einzelhafterfahrungen in einer Entfremdungszelle gesammelt.

Jeder individualisiert sich im Spektrum des Scheiterns. Falsche Entscheidungen geben sich als verfahrensgerecht abgelehnte Entwürfe und ordentlich eingestellte Autonomiebestrebungen aus. Ressentiments grundieren die Auffassungen des von Plattenbauten gerahmten Selbst. In einer Diversität zwischen Hass und Gleichgültigkeit endet die Individualität. Sie misslingt final in der Berufs-, Tattoo- und Partnerwahl. Für alle gilt, was Rolf Dieter Brinkmann Ende der Sechzigerjahre in seinem einzigen Roman feststellte: Keiner weiß mehr.

Meyer stellte zum Auftakt der 13. Deutsch-Israelischen Literaturtage sein fast komatöses Personal im Deutschen Theater vor.

DEUTSCH-ISRAELISCHE LITERATURTAGE
BERLIN // 11. - 15. APRIL 2018

"FAIR ENOUGH? WAS IST GERECHT?

mit: Yiftach Ashkenazy, Liran Atzmor, Fatma Aydemir, Nicol Ljubić, Mira Magén, Clemens Meyer, Amichai Shalev, Sarit Yishai-Levi und Takis Würger.

70 Prozent der Deutschen glauben, die Kluft zwischen Arm und Reich werde immer größer. Gleichzeitig haben nur 14 Prozent das Gefühl, in einer gerechten Gesellschaft zu leben. Und in Israel? Fragt man dort nach sozialer Gerechtigkeit, bekommt man automatisch Erinnerungen aus dem Jahr 2011 zu hören. Damals gingen Hunderttausende auf die Straßen und protestierten wochenlang gegen steigende Mieten, teure Kindergärten, hohe Steuern und fehlende staatliche Förderungen. „Das Volk will soziale Gerechtigkeit“ – das war die Parole, mit der die Demonstrantinnen und Demonstranten die Politik verändern wollten. Die Hoffnungen auf einen Wandel waren groß – ebenso die Ernüchterung. Denn geändert hat sich wenig und auch von der Bewegung ist nichts mehr zu spüren.

Dass in unseren Gesellschaften Ungleichheit existiert, ist keine Neuigkeit. Es ist aber auch keine Selbstverständlichkeit. Was hindert uns, unsere Gesellschaft gerechter zu organisieren? Oder wagen wir es einfach nicht, uns den grundlegenden Verteilungsfragen zu stellen? Mit diesen Problemen setzen sich neun Autorinnen und Autoren bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen 2018 in Berlin auseinander. Die Lesungen und Diskussionen finden in deutscher und hebräischer Sprache mit Simultanübersetzung statt.

Die Heinrich-Böll-Stiftung und das Goethe-Institut veranstalten die Deutsch-Israelischen Literaturtage seit 2005 im jährlichen Wechsel in Tel Aviv und in Berlin. Die große Resonanz bei Publikum und Medien zeigt: Das Interesse der Deutschen an Israel ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Gleichzeitig kommen viele junge Israelis nach Berlin, um zu erfahren, was aktuell in Deutschland geschieht – ob in Politik, Gesellschaft oder der Kulturszene. Die Deutsch-Israelischen Literaturtage wollen den Austausch und die Debatte zwischen Menschen beider Ländern fördern und Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu drängenden Themen der Gegenwart sprechen lassen – durch ihr Werk und mit ihren Ansichten. „Fair enough?“ fragen wir in diesem Jahr und versammeln neun Autorinnen und Autoren zur Lesung und zur Debatte über soziale Gerechtigkeit."
Den ersten Termin schilderte der Titel „Schöner Wohnen“ aus. Er verband Meyer mit Mira Magén. In dieser Konstellation traf ein Meister der literarischen Käseglocke auf ein aktivistisches Temperament. Mira Magén wuchs unter Orthodoxen auf, die auf der Flucht vor den Faschisten aus Osteuropa nach Israel gekommen waren. Sie bildeten einen Stamm der Überlebenden, etablierten sich im Widerstand gegen säkulare Kräfte und hielten den Nachwuchs zur Wehrdienstverweigerung an. Magén verweigerte den Gehorsam. Sie leistete Wehrdienst, studierte Psychologie und besetzte linke Standpunkte. Sie ging in die elternhäusliche Opposition und stritt sich solange, bis auf einem Gipfeltreffen der Familie Stillschweigen in allen politischen und religiösen Fragen vereinbart wurde.

Überall sonst zeigt Magén Flagge und beweist den Mut zum Bekenntnis. Mehrmals holte sie im Gespräch aus. Moderatorin Shelly Kupferberg synchronisierte geschickt die auf zwei weit voneinander entfernten Höhen zulaufenden Beiträge von Magén und Meyer. Trotzdem ließ sich nicht überhören, dass Meyer hinter einem Achternbusch der Kleinteiligkeit in seinem Ostbeat blieb. Fontanes weites Feld führte er mehrmals an, um seine Bemerkungen als Kurzfassungen zu deklarieren.

Meyer klärte auf der Linie. Literatur lebt von Konflikten, wusste er. Schriftsteller profitieren von Ungerechtigkeit.

Magén las aus „Zu blaue Augen“. Heldin des Romans ist die siebenundsiebzigjährige Hannah Jonah. Sie verteidigt ihr Haus in einer Jerusalemer Boom Area gegen Spekulanten, die der Resistenten einen greisen Romeo zum allmählichen Weichkochen auf den Hals schicken. Hannah spielt die Demente und tarnt sich außerdem mit Naivität. Sie ist aber helle. In einem vergnügten Plural verpackt sie die Weisheit:

„Wir sind zwar noch auf der Welt, aber wir schulden ihr nichts mehr.“

Hannah zur Seite steht eine Pflegerin, die als soziales Scharnier zwischen Landmassen funktioniert. Mit dem aus der öffentlichen Hand geschöpften Lohn unterstützt sie ihre Leute in den Karpaten. Dieser transkontinentale Transfer gehört zu den fluidesten Phänomenen der Gegenwart – als Beispiel für eine globale Organisation von unten. Magén wurde von der Pflegerin ihrer Mutter inspiriert, einer rumänischen Elektroingenieurin, die mit über Fünfzig von einem Arbeitsplatzverlust in die Mobilität gezwungen wurde.

Magén hob ihr persönliches Glück hervor, das sie als Verpflichtung betrachtet, anderen zu helfen. Sie ist Patin einer Familie, die sie aus einer schlechten Lage förmlich befreit hat.

Magén ist eine Gerechte unter den Völkern oder sollte es zumindest sein.

„Was bestimmt unser Schicksal?“ fragte sie im Deutschen Theater. Die Frage wird in den nächsten Tagen bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen wie ein Staffelstab weitergegeben.

Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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