Das Stopfei

Pedro Almodóvar erzählt in „Leid und Herrlichkeit“ von einem Regisseur, der nach einer langen Phase zunehmender körperlicher und seelischer Versteifung (sich) wieder drehen kann

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Antonio Banderas, Pedro Almodovar und Penelope Cruz auf der Pressekonferenz zu "Leid und Herrlichkeit"  bei den 72. Internationalen Festspielen von Cannes 2019
Antonio Banderas, Pedro Almodovar und Penelope Cruz auf der Pressekonferenz zu "Leid und Herrlichkeit" bei den 72. Internationalen Festspielen von Cannes 2019

Foto: Antony Jones/Getty Images

„Ich mag keine Autofiktion“, sagt Salvadors Mutter als grantige Greisin zu ihrem berühmten, temporär künstlerisch impotenten Sohn. Der wundert sich über das Fremdwort im Repertoire der einfachen Frau, die ihn in einem flussnahen Dorf zur Welt brachte. Die mütterliche Abneigung vor der (ihre Nachbarinnen einschließenden) Veräußerlichung von Leben in einer die Welt einladenden Schilderung erzeugt eine Art Gegenlicht (in einer subkutanen Gegenerzählung) zu der behutsam autobiografischen Rückschau in Pedro Almodóvars neuem Film „Leid und Herrlichkeit“. Endlich von Erinnerungen mit allen Wassern seines Lebens gewaschen/getauft/wiedergetauft, überwindet Almodóvars Stellvertreter Salvador Mallo seine Blockade und gewinnt das Leben im Flow der Produktivität zurück.

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Am Anfang steht eine Anfrage. Nach der Restauration eines Films, der vor über dreißig Jahren Furore gemacht hat und nun wieder gezeigt werden soll, fragt die Madrider Cinemathek den Regisseur, ob er die zweite Premiere nicht mit konstruktiver Anwesenheit adeln möchte.

„Leid und Herrlichkeit“, Spanien 2019. Regie: Pedro Almodóvar. Mit Antonio Banderas, Penélope Cruz, Asier Etxeandia.

Salvador Mallo möchte nicht, sagt aber zu. Der von einem Dutzend Krankheiten erpresste, total blockierte Regisseur hat sich in eine Galerie zurückgezogen; die Wohnung ist mit Bildern tapeziert. Salvador („Leid und Herrlichkeit“ ist ein Vornamenfilm) spiegelt sich in den Kunstwerken. Er genießt einen Medikamentencocktail nach dem nächsten, oft in Kombination mit Trinkjogurt.

Die Kühlschrankklappe geht auf und der Kopf des alten Antonio Banderas präsentiert sich auf einem Teller aus einer von einem Eisengießer namens Jean-François Boch 1748 in Lothringen gegründeten Porzellanmanufaktur. Das Jardin Imaginaire Motiv ist nicht zu sehen.*

*Kursiv gesetzte Passagen sind narrative Weiterführungen und im Film nicht zu sehen.

Antonio Banderas spielt Salvador gekonnt rückenkrank. Der Mann ist steif und hat keine Energie mehr. Um es gleich zu sagen, nicht verkraftet hat er den Tod der Mutter vor ein paar Jahren. Die Erkenntnis gewinnt er im Leiden. Sie/Es schiebt ihn an. Ich sehe vor allem die Mutter-Sohn-Beziehung in „Leid und Herrlichkeit“ herausgestellt. Der Sohn verliebt sich in den Gesang einer Sirene namens Mama (tatsächlich erscheint die Mutter als Waschfrau an einem Fluss) und eifert ihr nach, bis er als Solist im Chor des Priesterseminars die gleiche überstrahlende Wirkung ausübt.

Er ist einer, der den anderen vorangeht. Kann er nicht mehr gehen, bleiben die anderen stehen.

Die anderen sind so abhängig von seinen Urteilen, dass sie seine Kritik (aus)zeichnet; während Salvador sich in einer weit größeren Souveränität bewahrt und deshalb auf Lob nicht anspricht.

Er rückt nicht ab von seiner Kindheit.

Rückblende: Die Mutter ist eine praktische, von ländlichen Scham-und-Schande-Gesetzen geprägte Person. Genervt von der Schwiegermutter entzieht sie sich mit dem Sohn und strandet im Nirgendwo einer verriegelten Siedlung. Die Anspielung auf Maria und das obdachlose Jesuskind (Maria und Jesus ohne Josef) lässt sich nicht übersehen. Die Mutter belegt Brot mit Schokolade. In der Tafel findet Salvador zwei Sammelbilder. Sie zeigen Elizabeth Taylor und Robert Taylor. Der Junge hält die beiden Stars für Geschwister. Liz und Bob haben einmal zusammen gespielt.

Salvador entledigt sich seiner Schuhe. Ein Zeh triumphiert über dem Sockenknast. Die Mutter reißt Salvador den Socken vom Fuß, zieht ein Stopfei aus dem bäurischen Necessaire und beginnt geradezu wollüstig die Stopfarbeit. Sich darein vertiefend, spricht sie ihre Ehe an; man ist auf dem Weg zum Mann. Salvadors Vater hat beim Militär das Stopfen, Nähen und Bügeln gelernt.

Spanien ist eine Heilige/Das erste Begehren

Penélope Cruz spielt die Mutter, das hätte ich auch früher sagen können. So über ihren Mann redend, scheint sie sich noch einmal in ihn zu verlieben. Er kann besser bügeln als sie.

Penélope ist Jahrgang 1974 und tritt nicht als Spätgebärende auf. Allein diese Travestie der Jugendlichkeit verdient besondere Beachtung.

Salvador fragt sich, ob auch Elizabeth Roberts Socken mit Hilfe eines Holzeis stopft. Jahrzehnte später, die Mutter erwartet nur noch mit spanischer Selbstverständlichkeit und so katholisch wie die Nacht Gott endlich zugestellt zu werden, taucht das Stopfei wieder auf.

Es wird (gemeinsam mit einem Rosenkranz) Salvadors einziges Erbe – als Entnahme einer Kiste mit den letzten Gegenständen der Mutter. Das sind beinah ohne Ausnahme Devotionalien.

Almodóvar baut der spanischen Gläubigkeit Nester. Er erzählt mehr als eine Geschichte. Das sind nicht nur Rückblenden auf eine Kindheit im Karst, abgelöst von glanzvollen Zeiten, einer großen gleichgeschlechtlichen Liebe und einem schwerwiegenden Zerwürfnis, die vor den desolaten Gegenwartshorizont gesetzt werden. Vielmehr steckt in dem Film ein Film wie ein Kassiber.

In einem autobiografischen Anlauf memoriert Salvador:

„Kino gab es nur im Sommer. Es roch nach Pisse, Jasmin und Sommerwind.“

Salvador wächst in einer geweißten Höhle auf: in einem Wohnhöhlendorf. Er soll sich beschenkt fühlen, lebt er doch wie die ersten Christen in ihren Katakomben. Die Löwen in den Arenen werden verschwiegen.

Almodóvar dreht sein Erzählei. Ein gutherziger Adonis tritt als Analphabet, fähiger Anstreicher und begabter Zeichner ein. Er löst das erste Begehren bei Salvador aus. Der Kleine lehrt den Großen Lesen, Schreiben und Rechnen. Im Gegenzug erfährt er zum ersten Mal die Wertschätzung, die Größe entgegengebracht wird. Der schöne Schüler reimt sich drei Wörter zusammen: apostolische katholische Heilige.

„Wer ist das?“

„Na, Spanien.“

Spanien ist eine Heilige. Mit dieser Religionsgeografie im Kopf überflügelt Salvador die Chorknabenkonkurrenz, bevor er „die Arena von Madrid“ betritt. - Um da zu reüssieren. Die Erfolgsgeschichte überzieht wie Blendwerk eine viel brisantere Erzählung, in der kein Vater eine Rolle spielt. Die Mutter sucht nach einem Weg, dem Sohn ihr Elend zu ersparen. Er ist der einzige Hoffnungspfeil in ihrem Köcher; ihr Los in der Lebenslotterie. Sie kann nur tüchtig & tapfer sein. Salvador kann mehr. Sie setzt seine Ausbildung bis zur Hochschulreife gegen Gepflogenheit ihres Milieus durch. Nach dem Tod ihres Mannes will sie mit dem Sohn wieder zusammenleben. Salvador verweigert die Kommunion. Er ist auf Achse, erfüllt von einer großen Liebe zu einem nicht so viel jüngeren Mann.

Er kann seine Mutter nicht in Madrid gebrauchen. Erst viel später, als der Tod schon beide gegrüßt hat, nimmt er sie auf und bittet tätig um Vergebung. In dieser Zeit erfährt er, dass er für seine Mutter zur Enttäuschung geworden ist.

Das ist die beste Stelle im Film. Salvadors Erstaunen darüber, dass die Mutter sich so weit aufschwingt, kritisch über seine Kunst zu sprechen. (Nicht nur „stumme Anbetung, die Schreibmaschine kann.“ Arno Schmidt)

Da begreift man die entscheidende Inkubation. Die Mutter verwirklichte sich in ihrem Sohn und wirft ihm zum Schluss vor, spätestens in der Autofiktion, aber im Grunde auch schon vorher versagt zu haben. Sie ist die Regisseurin des Regisseurs.

Das alles wird überlagert von Ereignissen rund um das goldene Kalb des Durchbruchs vor über dreißig Jahren. Im Jetzt von damals: Salvador überwirft sich mit dem Hauptdarsteller, einem Junkie, der in seiner Arbeit überlebt, und im Handlungsjetzt zwar immer noch süchtig ist, aber hundert Mal vitaler als Salvador, der den gemeinsamen Film Sabor nun mit anderen Augen betrachtet. Er formuliert das paradox, behauptet, der Film sei mit den Jahren besser geworden. An der Formulierung hält er solange fest, bis sie ihren Witz verloren hat.

Manchmal guckt Banderas wie ein störrischer, manchmal wie ein verstörter Kater.

Bald mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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