Das Teewurstbrötchen des Amtsrichters

Mely Kiyak Die Mutter reiht sich in das Heer jener ein, die in den Amtsfluren aufkreuzen, wenn die Herrschaften Feierabend haben. Sie gehört zur Feudelarmee ...

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Mely Kiyak dem Sinn nach: Ich will nicht auch schreiben. Ich schreibe nur. Ich schreibe und schreibe. Ich schreibe euch fertig.

Wenn mich jemand fragt, was machst du, wollte ich antworten: Ich schreibe.

Feudelarmee

Die Mutter reiht sich in das Heer jener ein, die in den Amtsfluren aufkreuzen, wenn die Herrschaften Feierabend haben. Sie gehört zur Feudelarmee aus dem Kontingent der Verfügbaren, die dankbar sein sollen, Deutschland putzen zu dürfen. Manchmal begleitet das erzählende Ich die Mutter an die Front der Degradierung. Das Mädchen rührt einen altmodischen Amtsrichter so sehr, dass er seine teewurstigen Frühstücksbrötchen rituell abtritt. Er institutionalisiert die Almosenabgabe. Er gießt sie in einen degoutanten Akt der Barmherzigkeit. Die Mutter sackt die verschmähten Schrippen ein und zwingt ihre Kinder zum Verzehr der üblen Wohltaten.

Mely Kiyak, Frausein, Hanser, 127 Seiten, 18,-

„Die Wurstbrötchen waren eine Herausforderung.“

Erziehung bedeutet „Unterordnung bis hin zur Unterwerfung“.

Mely Kiyak exponiert den wesentlichen Punkt. Dass die Mutter zwar Höflichkeit walten ließ, aber keinesfalls Höflichkeit erwartete. Ihr reichte der gute Wille des alten Tölpels, der keinen Schimmer hatte, wie anmaßend seine Unwissenheit war. Die Tochter wundert sich retrospektiv, dass der Mutter das Bedürfnis abging, sich zu erklären und ihre „Verhältnisse geradezurücken“.

Pittoreske Zurückhaltung

Gewiss, man war arm, bedürftig war man jedoch nicht.

Kiyak klärt die pittoreske Zurückhaltung der Mutter als Aspekt eines Konditionierungsvorgangs. Die Debütantin wurde in die trotzlose Hinnahme von Fremdzuschreibungen eingewiesen. Die Selbstwahrnehmung war ein Kassiber - ein Untergrundmedium.

Kiyak beschreibt, wie Selbsterniedrigung aka blinde Zustimmung gelehrt und geübt wird. Überschreitungen der einschlägigen Schamgrenzen sind der Heranwachsenden nur erlaubt bei körperlichen Übergriffen, als Jungfrauenprotest im Geist einer rigiden Reinheitserhaltung. Kiyak setzt dann das Szenario des Widerstands (der Selbstbewahrung) auch bei allgemeineren Gelegenheiten ein. Ihr Nein avanciert zu einer verstörenden Instanz. Es reagiert stets analytisch auf einen konkreten Vorfall, greift aber alles Mögliche wie mit Baggerschaufeln auf. Wer auf ein Nein stößt, endet an Verteidigungslinien.

„Mit jedem Protest verausgabte ich mich bis zum Äußersten.“

Die Autorin isoliert sich. Durch die Schranken ihres Alleinseins gelangt sie nur mit Lampenfieber.

Gleich mehr.

Aus der Ankündigung:

„Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Davon möchte ich erzählen.“ Was Frausein bedeutet, zeigt sich in jedem einzelnen Leben: Mely Kiyak erzählt von den Gesprächen über Weisheit und Nichtwissen, die sie als Mädchen mit dem Vater führte. Von den Cousinen, die vom Begehren erzählten. Vom Aufwachsen zwischen Ländern und Klassen, zwischen „Herkunftsgepäck“ und Neugier auf unbekannte Erfahrungen. Vom Alleinsein, von Selbsterkundung, von Familie. Was ist Weiblichkeit, wenn man den öffentlichen Blick überwindet und zurückbleibt mit sich selbst? Aufrichtig, lebenslustig, zärtlich und entwaffnend klug erinnert Mely Kiyak daran, dass es die Verhältnisse sind, die einem beibringen, wie man liebt und lebt.

Zur Autorin:

Mely Kiyak, geboren 1976, lebt in Berlin und veröffentlichte mehrere Bücher und Essays, Theaterstücke und andere Texte. Für Zeit Online schreibt sie die wöchentliche politische Kolumne „Kiyaks Deutschstunde“, für das Gorki Theater Berlin „Kiyaks Theater Kolumne“. 2011 wurde sie mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2020 erscheint ihr neues WerkFrauseinim Carl Hanser Verlag.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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