Das transnationale Unten

Rechtspopulismus Die Soziologin Cornelia Koppetsch entdeckt in ihrer Analyse „Die Gesellschaft des Zorns“ ein „transnationales Unten“

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Eine verlassene Fabrik in Brandenburg
Eine verlassene Fabrik in Brandenburg

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Die Soziologin Cornelia Koppetsch entdeckt in ihrer Analyse „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ ein „transnationales Unten“. Fortsetzung meiner Besprechung vom 25.09.

Die Verdammten dieser Erde kriegen immer neue Namen. Die Soziologin Cornelia Koppetsch nennt sie „dieses transnationale Unten“.

„Hier finden sich Geringverdiener aus unterschiedlichen Weltregionen als globales Dienstleistungsproletariat wieder.“

Das Phänomen ist schon lange in einer veristischen Literatur angekommen. Eingesessene Franzosen, die mit nordafrikanischen Migranten um Jobs konkurrieren und in Prozessen der Deindustrialisierung zu Nomaden werden, die sich sozial kaum noch von denen unterscheiden, die so lange Bilder des Anderen (der Außenseiter) geliefert haben, erscheinen auf einem Hochplateau der Evokation wie tödlich erschöpfte Boten einer mit der Unerbittlichkeit von Ameisen aufrückenden staubgrauen Gewalt. Ein Vokabular rund um Identität & Nation beweist seine Unbrauchbarkeit.

Sozialer Vulkanismus

„Die soziale Rolltreppe“ zu den Etagen des Mittelstandes ist für Millionen Abgesprengter stehengeblieben; vielleicht infolge der sozialen Erdbeben. Beobachten lassen sich Umschichtungen von erdgeschichtlicher Wucht. Transnationale Sozialmilieus entstehen und sind bereits entstanden wie neue Inseln als Resultate eines gesellschaftlichen Vulkanismus. Die Globalisierung spannt Ethnien und Berufsgruppen zusammen. Eine geringe Varianz der Formate schafft Kohäsion zwischen zahllosen ethnischen Fraktionen.

Der internationale Wettbewerb beseitigt jede Menge Demarkationslinien. Über Zugehörigkeit entscheidet der Markt. So verliert die Verelendung in Europa ihre Sonderrolle als Luxusvariante der Armut. Koppetsch bemerkt, dass der weltweit grassierende Neoliberalismus alle Geringverdiener*innen wie in einer Konservenbüchse zusammenpresst.

Es kommt nicht mehr darauf an, soweit es alte Unterscheidungen betrifft. Mich erinnert das an ein Wort von Frank Costello im Gespräch mit Billy Costigan: „When I was your age they would say we can become cops, or criminals. Today, what I'm saying to you is this: when you're facing a loaded gun, what's the difference?“

Das transnationale Unten übernimmt die Minusvarianten der traditionellen Arbeiterklasse. Gleichzeitig ist es viel heterogener als es die Vorgängerin war. Diese Transformation in Gang brachte eine strategische Spaltung der Arbeiterklasse in Traditionalisten und Abtrünnige, mit dem Ergebnis, dass jeder als „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault) bis zur letzten Implosion vor sich hin irrlichtet.

Am Ende des Industriezeitalters fanden die Verlierer*innen im weltumspannenden Rust Belt ihren Abstieg in die Bedeutungslosigkeit perfekt gemacht von „den Zumutungen eines progressiven Moralismus, der sie pauschal als kulturell zurückgeblieben abtat“ (Nancy Fraser).

Koppetsch leuchtet den Hintergrund aus. Das transnationale Unten vergrößert sich in den Möglichkeiten der Unternehmen, Produktionen „in Niedriglohnländer auszulagern“ – sowie in der Bereitschaft der Mobilen aus dem Globalen Süden „zu schlechteren Bedingungen und niedrigeren Löhnen zu arbeiten“. In dieser Bereitschaft steckt eine Beweglichkeit mit paradoxen Folgen. Die Aufstiegsaggressivität motivierter Migrant*innen vereitelt im Lager der Prekären alle Anstrengungen in Richtung Solidarität und Loyalität.

Für die traditionell Prekären waren Migration und entfesselter Finanzmarkt nur die zwei Seiten einer Medaille. Im Nachgang des Industriezeitalters kam in den Verkörperungen der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton mit ihrem basket of deplorables alles zusammen, was dem Hass Nahrung gab. Da half nur Trump als Gegengift. Er war - wie viele seiner Wähler*innen – durchgeladen von Ressentiments.

Da ist er, der Rechtspopulismus in einer zornigen Gesellschaft. Bekanntlich hat er seine festeste Burg im althergebrachten Mittelstand, der „zwischen dem transnationalen Oben und dem transnationalen Unten“ eingetütet wurde.

„Über Lebenschancen und Ressourcenzuteilungen entscheiden immer weniger die klassischen Anwälte der Mitte.“

Koppetsch erkennt „eine Spaltungsachse innerhalb der Mittelschicht“. Die akademisch-kosmopolitisch-urbanen Vorreiterinnen übernehmen den Habitus der globalen Überschicht und identifizieren sich nicht mehr mit den Zurückgebliebenen in ihrer Einkommenssphäre. Die in die Defensive geratenen Zeitgenoss*innen assoziieren ihren Status mit den überkommenen Institutionen und Begriffen. Sie wehren sich mit Identität & Nation gegen ihre Marginalisierung. Ihre Perspektive zwingt sie zu restaurativen Ansichten. Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht im Transnationalexpress mitfahren. Ihre Zukunft suchen sie in der Vergangenheit. An den Lagerfeuern des Rechtspopulismus besingt man sie als das Salz der Erde. Das tröstet sie und das macht sie zu Rechtspopulisten.

Migrantische Transformationen

Die Soziologin Cornelia Koppetsch konstatiert in ihrer Analyse „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ den Erfolg rechter Protestbewegungen, die „Abschottung gegenüber universalisierbaren Wertebezügen fordern“.

Eingebetteter Medieninhalt

Alle sind sich einig. Integrationsbemühungen lösen den Affektstau auf der Gegenschräge des Fortschritts nicht auf. Einschlägige Anstrengungen haben oft keine Auswirkungen auf Stereotype. Die migrantische Figur des Anderen steuert Aushandlungs- und Anerkennungsprozesse selbst da, wo ihre Akteure ununterscheidbar vom mehrheitsgesellschaftlichen Normenvokabular agieren.

Cornelia Koppetsch, „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“, Transcript Verlag, 281 Seiten, 20,-

Dies geschieht im Rahmen von Strategien zur strukturellen Vermeidung einer Pluralisierung gesellschaftlicher Räume, in denen es anderenfalls mehrere hegemoniale (unter Hochdruck rivalisierende) Positionen gäbe. Ein Beispiel bietet die Abwehr „der Legitimität kultureller Anerkennung“ über die Religionsfrage (Naika Foroutan).

„Das Konzept der nationalen Identität schließt Gruppen und Einzelne aus dem kollektiven Narrativ aus.“ Naika Foroutan

Foroutan bezieht sich auf Untersuchungen, die in der Feststellung kulminierten, „die Information muslimisch reicht aus, um signifikant negative Einstellungen zu erzeugen“. Die muslimisch kodierten Migrant*innen werden zu Zielscheiben „reduktionalistischer Angriffe“.

Es geht um institutionalisierte Reduktion von Ambivalenz. „Die Unvereinbarkeit mit dem Eigenen“ hält als Begründung dauernd her. Cornelia Koppetsch macht genau da weiter. Sie analysiert die Kraftfelder, auf denen sich „der Primat … völkischer Partikulargemeinschaften“ als widerstandsfähig erweist. Die von den Auguren der Kommentarspalten ständig dem Untergang anheimgestellte AfD rauscht an den Weissagungen vorbei in die Parlamente und überwindet die Bollwerke ihrer Ächtung in einer Praxis des widerlegenden Unterlaufens von Standards, die sich auf einer Linie „modernisierungstheoretischer Gesellschaftserzählungen“ Flanken bildend herausgeschält haben.

Koppetsch weist daraufhin, dass die AfD in ihrem Namen einen Schlüsselbegriff der linken Gegengesellschaft aufgenommen hat. Die Alternativbewegung war eine Versammlung von Ökos und Müslis: in Opposition zu den bewahrenden Kräften der alten Bundesrepublik. In der aktuellen Diskussion über die „Bürgerlichkeit“ der AfD wiederholen sich nur die Luftspiegelungen und lunaren Effekte, die von der Partei zur Täuschung des Gegners eingesetzt werden. Daran interessant ist eine Antizipation. Die AfD-Gründer wussten, dass „Alternative“ im Windschatten „transnationaler Wertschöpfungsketten“ paradox als ein Begriff der abgehängten Mitte wahrgenommen wird.

„Bedrohte Mehrheiten sind die stärkste Kraft in der europäischen Politik“. Ivan Krăstev

Aus der Ankündigung

Was noch in den 1990er Jahren undenkbar war, ist mittlerweile Alltag: Ganze Bevölkerungsgruppen verlassen den Boden der gemeinsamen Wirklichkeit, kehren etablierten politischen Narrativen zornig den Rücken oder bestreiten gar die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens. Der Aufstieg des Rechtspopulismus markiert nach Dekaden der Konsenskultur eine erneute Politisierung der Gesellschaft. Gängige Erklärungen für die Entstehung des Rechtspopulismus ziehen die Ereignisse der Fluchtmigration von 2015 oder vorgebliche Persönlichkeitsdefizite seiner Anhänger als Ursachen heran. Cornelia Koppetsch dagegen sieht die Gründe in dem bislang unbewältigten Epochenbruch der Globalisierung. Wirtschaftliche, politische oder kulturelle Grenzöffnungen werden als Kontrollverlust erlebt und wecken bisweilen ein unrealistisches Verlangen nach der Wiederherstellung der alten nationalgesellschaftlichen Ordnung. Konservative Wirtschafts- und Kultureliten sowie Gruppen aus Mittel- und Unterschicht, die auf unterschiedliche Weise durch Globalisierung deklassiert werden, bilden dabei eine klassenübergreifende Protestbewegung gegen die globale Öffnung der Gesellschaft.

Geografie der Macht

Vor langer Zeit nannte Bodo Morshäuser Berlin die Stadt, in der die Dinge kurz vor ihrem Eintreffen schon einmal (wie) zur Probe stattfinden. Koppetsch haut soziologisch in diese Kerbe. Sie spricht von „sozialräumlicher Polarisierung“. Von Amsterdam bis … „ballt sich der gesellschaftliche Wandel“. Die Metropolen „transzendieren die klassische Sozialstruktur“. Da konzentrieren sich die hochlebenden Höchstleister*innen mit ihrer low life crowd für die Tresendienste und Müllbeseitigungskampagnen.

Koppetsch beschreibt die „aufgewerteten … Großstädte (als) „Bühnen des neuen multikulturellen Urbanismus, der die Stadt als Ort kultureller Diversität … zelebriert“, während vor den städtischen Toren „die Entleerung und Verödung ganzer Landstriche“ dazu einlädt, sich ausgeladen zu fühlen. Koppetsch hütet sich davor, Ostdeutschland als politische Brache zu apostrophieren, lieber hält sie sich an la France périphérique. Das sind sowohl literarisch als auch akademisch gründlich erschlossene Katastrophengebiete. Da leben keine „postnationalen Kosmopoliten“. Die migrantischen Transformationen erzeugen in den (von der ursprünglichen Bevölkerung) aufgegebenen Regionen eine „demografische Melancholie“. In diesen Reservaten des grassierenden Mangels gedeiht kein Verständnis für Lebensentwürfe, die von einem transnationalen „Verkehrs- und Transaktionsraum“ ausgehen und deren Protagonisten den Designvorschriften einer „globalen Oberschicht“ genügen müssen, um sich selbst zu genügen.

Koppetsch stellt deutlich heraus, dass die Zukunftskohorten den Wunsch nach einer Rückkehr ins Industriezeitalter auslösen. Die geografisch Abgehängten treffen sich an den Emotionslagerfeuern, von denen am Anfang der Besprechung die Rede ist. Als Wähler*innen wendet sich diese Klientel affektiv gegen die Beschleunigten. Das Ressentiment unterscheidet nicht zwischen postnationalen Globalist*innen und Migrant*innen. Wer glaubt, der Rechtspopulismus habe sich weitgehend erledigt und würde sich mit Widersprüchlichkeit im politischen Alltag den Rest geben, der ignoriert Millionen, die keine größeren Erwartungen haben, als im revanchistischen Ausschluss anderer in eine Art Kompensationsgenuss zu gelangen. Wenigstens Deutscher. Wenigstens Franzose. Hauptsache kein Geflüchteter. Hauptsache weiß. Hauptsache kein Muslim. Ich bin eine arme Sau. Aber diese Säue sind noch ärmer. Regression bestimmt den Kurs. Wo es mehr nicht braucht, um bindend zu wirken, spielt es überhaupt keine Rolle, was eine Politikerin sagt. Die wahlentscheidenden Versprechen wurden immer schon vorher abgegeben. Sie stecken in der alternativen Attitüde.

Bald mehr.

Cornelia Koppetsch, „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“, Transcript Verlag, 281 Seiten, 20,-

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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