Fremder Schatten

Antisemitismus Die antisemitische Walze wurde lange vor ... Es bedurfte keines Antipoden-Charakters im Verhältnis zu anderen monotheistischen Religionen, um dem Hass Auftrieb zu geben.

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„Der längste Hass“

Sie stammt von Heilbronner Winzern nicht zuletzt ab. Auch Frankfurter Gründerväter stehen auf der Agenda ihrer Herkunft. Das Power-Portfolio beförderte sie in den Rang einer Grande Dame des britischen Establishments.

Julia Neuberger, „Antisemitismus. Wo er herkommt, was er ist – und was nicht“, aus dem Englischen von Anne Emmert, Berenberg Verlag, 226 Seiten, 16,-

Antisemitismus entspricht dem „längsten Hass“ (Robert Wistrich) der Menschheitsgeschichte. Neuberger findet seine Wurzeln im „religiösen Antijudaismus, in Stammeskriegen und in Ressentiments gegen Juden, die allen Widrigkeiten zum Trotz überlebten“.

Die antisemitische Walze wurde lange vor unserer Zeitrechnung in Gang gesetzt. Es bedurfte keines Antipoden-Charakters im Verhältnis zu anderen monotheistischen Religionen, um dem Hass Auftrieb zu geben.

Es gab schon ein halbes Jahrtausend Antisemitismus, als Christen im 2. Jahrhundert aus einer bedrängten Position die Juden in ihr Feindbild integrierten. Es ging darum, Jesus aus seinem jüdisch-prosaischen Kontext zu lösen. Nennt es Cultural Appropriation und ihr sagt nichts Falsches. Man erschafft dem eigenen Idol einen fremden Schatten.

Man delegitimiert eine abweichende Auffassung und erschüttert so den Stand eines herbeigeredeten Opponenten, der seine Rolle im Spiel als Heimsuchung erlebt.

Neuberger erläutert die Anordnung. Die frühchristliche Kirche postulierte ein Alleinstellungsmerkmal, indem sie Jesus vergötterte. Gleichzeitig installierte sie ein rigides Nachfolgeregime. Die reine Lehre konnte nur von Meisterschülern der Apostel kanonisiert werden. Die Apologeten „der apostolischen Sukzession bekämpften“ schlankweg alle anderen. Sie allein kannten die Gestalt des Neuen Israel. Juden wurden mit dem Alten beziehungsweise gefallenen Israel assoziiert. Gott nahm man als judenfeindlichen Gewährsgeneral in die Pflicht. Er habe Juden ob ihres „unspirituellen Wesens“ auserwählt. Von da war es nur noch ein Katzensprung zur Ketzerei als zusätzlichen Vorwurf.

Johannes Chrysostomos (344 – 407) erklärte die Synagoge zum „Bordell“.

Vom Nabel der negativen Festlegungen (zuzeiten der von Rom überschatteten Kirche) führt eine Schnur der Herabsetzungen ins Mittelalter. Die Vorurteile verhärten und vereinheitlichen sich in einem Verfolgungsleitfaden. Gleichzeitig überlebt mit dem Judentum die einzige religiöse Minderheit in Europa. Die christliche Dominanz ist überwältigend und damit die Deutungshoheit über die Minorität.

Gleich mehr.

Aus der Ankündigung

Wenn sich Antisemitismus heutzutage in einer Gesellschaft mitten in Europa ausbreitet, ist es schlimm genug. Wenn selbst die linke politische Elite eines Landes hier voranmarschiert und Ressentiments schürt, wird es brandgefährlich. Julia Neuberger, britisch-deutsche Rabbinerin, berichtet mit vielen Beispielen aus jüngster Zeit genau davon aus ihrer Heimat. Und weil Antisemitismus so viele hässliche Gesichter tragen kann, liefert sie historischen Hintergrund und erläutert, was Antisemitismus ist – und was nicht. Denn nur, wenn darüber Klarheit besteht, lässt er sich bekämpfen.

»Wenn ich auch nur einen Menschen dazu bewege, seine Meinung zu ändern, sei es in Deutschland oder in Großbritannien, bin ich schon zufrieden. Sind es mehrere, bin ich begeistert. Und wenn wir dieses Buch in zehn Jahren wegwerfen können, weil es nicht mehr gebraucht wird, werde ich völlig aus dem Häuschen sein.«
Julia Neuberger im Vorwort zur deutschen Ausgabe

Zur Autorin

Julia Neuberger, geboren 1950, ist eine britische Rabbinerin und Politikerin, seit 2004 ist sie Mitglied des House of Lords. Sie hat zahlreiche Bücher zum jüdischen Leben, zu ethischen Fragen, Religion und Sterbebegleitung veröffentlicht. Seit 2019 besitzt sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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