Die Rückkehr der Klasse

Koexistenz im Widerstand - Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung erklären Didier Eribon und Christina Kaindl im Berliner Münzenbergsaal den europäischen Rechtsruck mit linkem Versagen

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Am Ende des algerischen Unabhängigkeitskrieges standen die Pied-noirs vor der Wahl: la valise ou le cercueil – Koffer oder Sarg. Heute liest man so was anders adressiert zwischen den Zeilen einer extremen Rechten, die sich von Marine Le Pen genauso gut verstanden fühlt wie der medial umschwirrte Renegat sozialistischer Provenienz. Ihre Front-National füllt Repräsentationslücken. Die Partei ist zum Hafen für Milieus geworden, die Jahrzehnte in Feindschaft verbunden waren. Wie konnte es dahin kommen, dass Stammtischschlachtrufe (vermeintlich) abgehängter Restaurationsvereine zum Sirenengesang für jene Klasse wurden, die Jahrzehnte in Lateineuropa eine rigorose Linke stärkte? Eine Übersetzung von Eribons Autobiografie setzt diese Frage (im erweiterten Kontext) auf die deutsche Tagesordnung. Im Münzenbergsaal am Franz-Mehring-Platz rücken Affizierte zusammen. Die “Rückkehr nach Reims” scheint eine psychotrope Wirkung zu haben. Eribon bewältigt zurzeit einen Veranstaltungsmarathon in extrem voll beleibten Hallen. Der Soziologe geht in der Ich-Erzählung von bloß Akzidentellem aus: einer proletarischen, ihn abweisenden und bis zum Bruch mit der Familie provozierenden Herkunft - und seiner in den befreiten Zonen von Paris erst lebbar gewordenen Homosexualität. Eribon überliefert die Überwindung einer doppelten Scham. Der Tod des Vaters nötigt ihn zu einer Pflichtübung in ursprünglicher Enge und setzt ihn kaum gewollt neben die Mutter. Die Frau zählt zu den traditionell linken (links geborenen) Arbeiterinnen, die ihre Richtung änderten.

Eribon hält sich mit dem Kultivierungsvorgang auf, der ihn seiner Klasse entfremdete. Zugleich kehrt er zum Begriff der Klasse zurück und rückt die Faubourgs der Lumpenintellektuellen in die umfassende Ordnung der Arbeiterklasse. Er jongliert mit aufgegebenem Vokabular, um es wieder zu beleben. Eribon sagt: Die Linke hat sich von ihrer Hauptaufgabe gelöst und die Arbeiter dem Feind in die Arme getrieben. Arbeiter ist für Eribon ein Sammelbegriff für gesellschaftlich unterrepräsentierte Gruppen, Arbeitslose und Migranten inklusive. Er will sie weltweit einfangen - von Occupy (ist nicht das Volk) bis zu den Indignados espana, als Beispiele für parteifernen Protest.

Eribon beschreibt, was passiert, wenn nationaler/religiöser Fundamentalismus und Feminismus auf einem Platz in der Türkei temporär zu einer Allianz verschmilzt. Er bilanziert: Solche Konvergenzen lassen die Divergenzen zwar nicht verschwinden, doch bieten sie sich zur Neukonfiguration des politischen Raums an.

Christina Kaindl (Die Linke) vertieft und variiert Eribons fräsende Einlassungen. Er gebe Auskunft “über das gestohlene Leben von Leuten, von denen wir nichts wissen” und dokumentiere “eine soziale Schließung”. Der Arbeiter (nach Eribons einladender Auffassung) sei aus der Repräsentation gefallen und so zu einer Beute geworden. Kaindl: Rechte dringen in die Welterklärungen der Arbeiter ein, das verändert die Gegnerbestimmungen. In gründlichen Weltbildverschiebungen sorgten Rechte dafür, dass aus “wir Arbeiter gegen die Bourgeoisie” ein “wir Franzosen gegen die Migranten” wurde. Con variazioni. So wie in Thatchers Großbritannien against the bosses for the blacks zu against the bosses against the blacks mutierte. Ich verlinke zur Abkürzung einen Aufsatz von Kaindl https://www.akweb.de/ak_s/ak572/28.htm

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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