Europa ist meine Flaniermeile

Literatur Dana Grigorcea las in der Berliner Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen

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Dana Grigorcea

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„Europa steht für Grenzüberschreitungen“, heißt es in der Vorrede sonntäglich.

Die Autorin des Abends verkörpere die europäische Bewegungsfreiheit. Sie engagiere sich in besonderer Weise für den Aufbau einer transnationalen Bürgergesellschaft. Mich fasziniert eine zweifellos unbewusste Mimikry. Der genauso zweifellos ehrgeizige, sich selbst herausfordernde Referent könnte seinen Aufsatz mit einigen Streichungen auch im Thinktank von #unteilbar auf der Hebbel-am-Ufer-Bühne halten. Er beweist seine Formulierungsgeschmeidigkeit vor einem bürgerlich-nüchternen Publikum. Ich wähne mich in einer Versammlung der akademischen Ruhrpott-Diaspora. Da sitzen angenehme Leute – geborene Sozialdemokrat*innen, vom Erwerbsleben mit hervorragenden Bezügen Geschiedene. Gleich gibts Kölsch aufs Haus.

Der Referent sagt so vor sich hin:

„Europa erlaubt beides: Weltläufigkeit und Heimatliebe.“

Mit dem Satz scheitert die Anpassung an Berliner Verhältnisse. Die Druckwellen der Bewegungs- und Hashtagpolitik haben die Landesvertretung noch nicht erreicht. Hier herrscht der linksrechts-liberale Konsens des letzten Jahrtausends, inklusive SPD-NRW-Patriotismus.

Der Referent übergibt an Moderator Michael Serrer. Ich nehme vorweg, worin sich der größte Gegensatz zwischen ihm und Dana Grigorcea manifestiert. Während Serrer weiß, dass Schriftsteller*innen schreckliche Menschen sein können, hält Grigorcea die Literatur für eine Förderin der Empathie. Das räumt nach Einschätzung der Autorin ihren Urheber*innen einen beträchtlichen Kredit ein. Grigorcea erzählt von ehrenamtlichen Künstler*inneneinsätzen in ihrem Flüchtlingshilfswerk in Zürich, wo die gebürtige Rumänin mit Familie lebt. Ihren Kindern liest Grigorcea zurzeit Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“ vor. Sie verknüpft die Meldung mit einer ergötzenden Warnung: Sie sei daran gewöhnt, solange zu lesen, bis alle eingeschlafen sind.

Michael Jackson in Bukarest

Dem Auditorium in der Landesvertretung liest Grigorcea aus „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ vor.

„Rapineu wohnte zwei Straßen entfernt und war Vaters Schulfreund und, was Mutter so beeindruckte, er war Souffleur im Bukarester Opernhaus. Es muss wohl seinem verschrobenen Humor geschmeichelt haben, als er, der doch in einem dunklen Kasten im Bühnenboden arbeitete, einen ebenso kleinen, allerdings erhöhten gläsernen Kasten beim Gartenzaun seines Hauses errichten ließ – für die operettenhafte Erscheinung jener Dame, die alle im Quartier nur die „Hübsche“ nannten und die in dem Glaskasten dem sehr lukrativen Beruf der Remailleuse nachzugehen begann, sie repassierte Laufmaschen in Seidenstrümpfen.“

„Repassieren“ ist ein schönes Wort. Grigorcea lieferte der Niedergang des Warschauer Pakts erstaunliche Bilder, obwohl sie im Gespräch mit Serrer „von einer Zeit der Sprachlosigkeit“ spricht. Der Eiserne Vorhang hebt sich vor den Augen ihrer Heldin Viktoria. Drei Jahre nach Ceausescus Exekution fliegt Michael Jackson ein. In Bukarest erwartet man ihn wie einen Engel der Erlösung. Michael Jackson nennt Bukarest Budapest. Man kann noch nicht mal sagen, dass er Rumänien mit Ungarn verwechselt, so oder so sagen ihm die Länder nichts. Aber die Heilserwartung der von Ceausescu Erlösten lässt sich nun nicht mehr auf Michael Jackson übertragen. Von Magie zu Maggi mit einem Versprecher.

Wir bezogen unsere europäischen Informationen aus einer arabischen Filiale

Grigorcea betont den weit über Rumänien hinausreichenden Radius ihrer Vorfahren.

„Meine Großeltern hatten bereits europäische Biografien.“

Ein Großvater war Bukarester Bürgermeister, als Rumänien von einem König regiert wurde. Man riet zum Exil, er blieb mit der Erwartung, dass sich die Kommunisten nicht halten würden. Sein Irrtum brachte ihn ins Gefängnis.

„Die Geschichte ist ein Albtraum“, sagt Joyce. „Ich wollte Rumänien nie verlassen“, sagt Grigorcea.

Europa ist meine Flaniermeile

„Ich bin keine Exilantin – keine Geflüchtete. Ich habe keine Türen hinter mir zugeschlagen.“

Ihre Mutter studierte Arabisch, erwarb orientalische Verbindungen. Das führte dazu, so sagt es Grigorcea wunderbar, „dass uns die europäische Kultur via Bagdad erreichte.“

„Wir bezogen unsere europäischen Informationen aus einer arabischen Filiale.“

„Der Orient war ein Eldorado.“

Grigorcea studierte in Bukarest Niederländisch und Deutsch. Seit 2004 schreibt sie auf Deutsch, um über das rumänische Sprachghetto hinaus einfach wahrgenommen werden zu können.

„Ich will mich nicht isolieren.“

Grigorcea findet ein schönes Beispiel für die Krux von Übersetzungen. Eine Übersetzerin habe aus Star Diva gemacht.

„Plötzlich flanierte eine Diva durch eine angesagte Gegend von Zürich, wo im Original ein Vogel fliegt.“

Die Übersetzerin sei zehn Jahre jünger gewesen und dieser Abstand habe ausgereicht, um den Text in der Übersetzung noch einmal neu entstehen zu lassen. In dem Kollaborationsprodukt „war die Natur aus der Stadt verschwunden. Es kamen nur noch Cafés vor.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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