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Antisemitismus Delphine Horvilleur im Gespräch … Die Ikone des liberalen Judentums erklärt: „Manchmal spielt die verwundbarste Person in einer Geschichte die stärkste Rolle.“

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„Manchmal spielt die verwundbarste Person in einer Geschichte die stärkste Rolle.“

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Ideen sind schneller als das Virus. Entfernungen bedeuten nichts mehr. Oft stehen wir Menschen an einem anderen Ende der Welt näher als den Leuten auf der anderen Straßenseite. Das sagt Delphine Horvilleur im Gespräch mit Mirjam Wenzel. Kritisch äußert sie sich zu dem aktuellen Identitätsdiskurs, der die Herkunft feiert. Horvilleur argumentiert dagegen mit der Geschichte Abrahams. Er habe seine Identität im Weggehen gewonnen. Auf dem Weg zu einer ihm unbekannten Destination wurde er, was niemand vor ihm war. Horvilleur plädiert für einen Identitätsbegriff, der von der Leistung ausgeht, die jemand fern seines Geburtsorts vollbringt. Die Losung lautet: Ich werde sein.

„Juden gingen durch Zivilisationen, die nicht mehr bestehen.“

Das lehrt, vom Wandelbaren auszugehen und in Bewegung zu bleiben. Jeder Bestand ist ein Übergang. Das antike Griechenland und das persische Großreich sind museale Größen, aber „wir sind immer noch Teil der Landschaft“.

„Die jüdische Identität wurde gerettet, indem sie nicht definiert wurde. Das abschließende Wort bleibt unausgesprochen.“

Täglich erreichen uns Nachrichten über antisemitische Vorfälle in ganz Europa. Erlebt der Antisemitismus eine Renaissance oder war er nie weg? Horvilleur, geboren 1974 in Nancy, eröffnet in ihrem Buch „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ eine neue Perspektive auf eines der hartnäckigsten Übel der Menschheitsgeschichte.

Delphine Horvilleur, „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, aus dem Französischen von Nicola Denis, Hanser, 141 Seiten, 18,-

Die vom Jüdischen Museum Frankfurt konzipierte Buchpremiere fand gestern Abend im Video Stream statt. Prof. Dr. Mirjam Wenzel konferierte von Rechner zu Rechner mit Horvilleur. Die Direktorin des Jüdischen Museums fragte zuerst nach dem Stand der deutsch-französischen Beziehungen, soweit es das liberale Judentum betrifft.

Delphine Horvilleur - Sie ist eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs, Herausgeberin der Zeitschrift Tenou’a, Autorin mehrerer Bücher zum Thema Weiblichkeit und Judentum, und eine Stimme Europas. In ihrem aktuellen Essay analysiert Horvilleur den Hate Train mit Faschismus und Misogynie als Tender des Antisemitismus. „Mit großer Klarheit und argumentativer Brillanz zeigt uns Horvilleur Leitmotive des Antisemitismus auf und spannt dabei den Bogen bis hin zur politischen Gegenwart. Ihr Essay ist eine zeitgemäße Re-Lektüre talmudischer Legenden und zugleich eine scharfsinnige Analyse gegenwärtiger Identitätspolitik.“

Warum, fragt Horvilleur, identifizieren „Teile der extremen Linken … die Juden“ (grundsätzlich) mit den Herrschenden? Stets würden ihre Privilegien vorausgesetzt. Selbst Juden in prekären Lagen nähme man als Begünstigte wahr.

Horvilleur über Tenou’a. Das Magazin ist „ein Labor jüdischen Denkens. (Darin) treffen sich Juden und Nichtjuden in der Kraft jüdischer Literatur“.

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Immer mehr Menschen interessieren sich für „fortschrittliche Formen jüdischer Sensibilitäten“, erklärt Horvilleur. Das liberale Judentum schildert sie als „eine wachsende Minderheit in Frankreich“.

„Wir reden über Kontaminationen“ angesichts der Erkenntnis, dass „Grenzen uns nicht (mehr) schützen“. Man müsse Vertrauen in die Vorstellung fassen, dass Ideen noch schneller sind als das grassierende Virus.

„Wir müssen uns noch stärken verbinden, um zu erkennen, wie viel wir teilen.“

Wenzel erwähnt den in Frankreich besonders virulenten Judenhass. Horvilleur führt Beispiele an, die Schlagzeilen machten, ohne einen Proteststurm zu entfachen. Lähmend sei die mehrheitsgesellschaftliche Zurückhaltung etwa nach der Ermordung von Kindern vor der Ozar Hatorah Schule in Toulouse im März 2012, die zu einer Anschlagserie gehörten, bei der sieben Menschen in der Region Midi-Pyrénées ums Leben kamen.

Horvilleur befragte „jüdische Texte“ nach den Ursachen für das Hasskontinuum. Sie fragte sich, ob es „eine Art jüdischer Weisheit in der Herangehensweise an dieses Phänomen“ gäbe. Sie fand „eine starke Analyse der Rahmenbedingungen“.

Eine Lesung unterbricht die Ausführungen. Man erfährt, dass im Alten Testament von Juden nicht die Rede ist. Vielmehr erzählt die Bibel von den Kindern Israels und dem hebräischen Volk. So bilden sich zwei Identitätsbegriffe im biblischen Textland. Der erste Hebräer wird als Chaldäer in Ur geboren. Es ist schon alles da. Ur zählt als sumerische Gründung zu den Herzstädten Mesopotamiens: dem Anfang von allem, was uns die Sesshaftigkeit beschert hat. Abraham, und darauf will Delphine Horvilleur hinaus, kommt nicht als Jude zur Welt. Er gewinnt diese alternative Identität, indem er Gott gehorcht – Gott und nicht den Menschen.

Das ist der Witz dieser Geschichte. Abraham verlässt seine Leute, heute würde man sagen, das sind Araber. Das heißt, Abraham gibt seine volkstümliche Identität auf und folgt dem Fingerzeig Gottes in ein anderes, für ihn zunächst namenloses Land. Der Selbstausschluss und die Gemeinschaftsverweigerung bilden das irdische Fundament der Existenz im Auge Gottes. Abraham definiert sich in der Exklusivität, die seinem Fortgang folgt. Er wählt, so Horvilleur, einen Transitbegriff für sich.

„In der Sprache der Bibel ist der Hebräer … der Überquerende.“

„Ein Hebräer hat kein namensgebendes Ursprungsland.“

Ihn kennzeichnet, seinen Geburtsort hinter sich gelassen zu haben.

„Sein Name bezeichnet eine geografische oder geistige Abkopplung. Odysseus stammt aus Ithaka und sehnt sich nach Heimkehr. Abraham hingegen stammt aus Ur und unternimmt alles … um nie wieder zurückzukehren.“

Die historisch-hebräische Identität ergibt sich nicht aus der Herkunft, sondern aus dem „Begehren eines Landes, in dem wir nicht geboren sind“ (Emmanuel Levinas).

Horvilleur leitet daraus „die unmögliche Definition des Judentums“ als Zentralfigur des konzentrierten Denkens ab. Gilt das nicht für alle, die bereit sind, über ihre Küstengewässer hinauszufahren? Muss nicht jeder Mensch sein Land gewinnen genauso wie jeder Wanderwolf sein Territorium?

Gleich mehr.

Aus der Ankündigung

Wo liegen die Ursprünge antisemitischen Denkens? Was heißt es, jüdisch zu sein, ohne den definierenden Blick des Antisemiten? Und wie hängen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit zusammen? Delphine Horvilleur ist eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs und eine der einflussreichsten Stimmen des liberalen Judentums in Europa. In ihrem Essay beleuchtet sie die fatalen Parallelen von Antisemitismus, Faschismus und Misogynie. Dabei spannt sie den Bogen von religiösen Texten bis hin zur politischen Gegenwart. Ihr in deutscher Übersetzung von Nicola Denis bei Hanser Berlin erschienenes Buch Überlegungen zur Frage des Antisemitismus eröffnet eine neue Perspektive auf eine alte Frage, die sich in unserer Gegenwart erneut mit großer Dringlichkeit stellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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