Empörungschoreografie und kalkulierte ...

Junge Politik Mareike Nieberdings Ansage „Verwende deine Jugend“ ist als politischer Aufruf im Geist der #Vielen zu verstehen

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Mareike Nieberding
Mareike Nieberding

Foto: imago images / Metodi Popow

Gefühle hundert Jahre nach Jürgen Teipels Doku-Fiktion über den deutschen Punk und New Wave „Verschwende deine Jugend“ spielt Mareike Nieberding auf den klassisch gewordenen Titel an. „Verwende deine Jugend“ ist als politischer Aufruf im Geist der #Vielen deklariert. Er beklagt die Grenzüberschreitungen der Demokratiefeinde von Gaulands „Vogelschiss“ bis zu André Poggenburgs Revitalisierung eines nationalsozialistischen Symbols in Gestalt einer Kornblume.

2016 gründet Nieberding die Jugendbewegung DEMO im Geist des Aktionismus: „Lasst uns Demo machen.“ Nach dem Trump-Sieg fing sie „an zu weinen. Als die Trauer der Wut wich, riss ich das Fenster auf und schrie `Fuck` in einen nebligen hannoverschen Hinterhof“. Das folgt konsequent der Heiner-Müller’schen Einsicht: Wer sich nicht engagiert, wird engagiert. Nieberdings Aufruf verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Er koinzidierte mit dem lebhaft-verbreiteten Wunsch, aus der Filterblase heraus an die frische Luft des richtigen Lebens zu gelangen.

Nieberding, die Literaturwissenschaft und Publizistik in Berlin und Paris studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht hat, erlebt sich einer Doppelrolle als Chronistin und Aktivistin. Ihre Bedeutung als Trendleader wurde rasch erkannt. Bereits 2016 diskutierte sie in einem ZDF-Studio mit Jürgen Trittin über die Außenpolitik von Donald Trump.

„Ich nahm die Sichtbarkeit dankend an.“

Aus der Ankündigung

Rezo „zerstört“ die CDU mit einem YouTube-Video, und deren Parteivorsitzende stellt die Meinungsfreiheit in Frage, gleichzeitig wird der Juso-Chef für neue Ideen diffamiert, und Schüler, die jeden Freitag für ihre Zukunft demonstrieren, vom jüngsten CDU-Generalssekretär der Geschichte verhöhnt. Es ist paradox, die Jugend will, die Politik will irgendwie auch, aber sie kommen einfach nicht zusammen.

Wie sich dieser Zustand ummünzen lässt, beschreibt Mareike Nieberding in „Verwende deine Jugend“. Nieberding zeigt: Die Jugend will über die Zukunft mitentscheiden, sie hat etwas zu sagen, das heißt, sie ist keineswegs politik-, sondern viel mehr parteienverdrossen. Die Jugendlichen haben ein neues Verständnis für Politik entwickelt. Währenddessen verharrt "die andere Seite", die Seite der etablierten Politik, auf ihrem Senioritätsprinzip. Die konsequente Schlussfolgerung lautet, die Politik ist großteils jugendverdrossen. Wie Parteien und Führungspersönlichkeiten lernen können, die Forderungen der Jugendlichen ernst und sie politisch in die Pflicht zu nehmen, damit sie gemeinsam Macht machen können, beschreibt Nieberding anschaulich.

Nach Trumps Wahl zum amerikanischen Präsidenten trieb die Autorin „vor allem Angst“ an. Nieberding erklärt die Funktion und Notwendigkeit von Angst, die verstärkt wurden von den Parolen der Pegida-Demonstrant*innen in Dresden. Sie erkennt sehr zutreffend, dass alle Veränderungen fürchten, die Rechten und die Linken. Im Kanon der Nieberding’schen Angst-Trophäen finden „die Fremden“, „die Gesinnungsdiktatur“, „die Meinungskorridore“ keinen Platz. Nieberding „trauert keiner Vergangenheit nach“, sie fürchtet „um die Zukunft“. In diesem Zusammenhang moniert sie den „toxischen Realismus“ jener, die nach pragmatischen Devisen zu leben bestrebt sind. Nach Nieberdings Begriffen gibt es keinen veränderungsfesten Kern der Politik. Alles ist gestaltbar und es liegt an den #Vielen aka #Unteilbar, wohin die Reise geht.

Eingebetteter Medieninhalt

Nieberding verbindet einen graswurzlerischen Ansatz mit durchgreifenden Initiativen. Sie erzählt die Geschichte ihres Engagements zumal an der Freien Universität, wo das „emanzipatorische Vermächtnis der Studentenbewegung“ zumindest von einigen bewahrt wird, nicht zuletzt von dem „langhaarigen Langzeitstudenten mit Antifa-Pulli, von außen schluffig, aber politisch felsenfest ganz links“.

Nieberding korrigiert das Bild von einer Jugend, die ungeprüft und ohne Abschlüsse in verantwortungsvolle Parteipositionen drängt. Sie erwähnt Kevin Kühnert. Unter dem Titel „Die Politik ist jugendverdrossen“ lässt sie den Juso-Vorsitzenden selbst zu Wort kommen. Kühnert spricht von „imaginärer Lebenserfahrung“, als einem fiktiven Kompetenznarrativ, mit dem alte Leute junger Politik einen paternalistischen Riegel vorschieben wollen. Nieberding und Kühnert sind sich einig: „Macht kommt von Machen“. In diesem Sinn ist der Aufruf zu verstehen, oder, um es mit Kühnert (dem Sinn nach) zu sagen: In der Politik engagieren sich nicht zu viele alte Menschen, sondern zu wenig junge. Das zu ändern hat sich Nieberding auf ihre Fahne geschrieben.

Info

Mareike Nieberding, „Verwende deine Jugend. Ein politischer Aufruf“, Tropen im Klett-Cotta Verlag, 107 Seiten, 12,-

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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