Intellektuelle Autofellatio

Literatur Als der Wende ein großer Wurf folgen sollte – Erinnerung an eine Feuilleton-Debatte von 1990

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Der Schriftsteller Roger Willemsen vermutete hinter der Feuilletonkontroverse ein Gesellschaftsspiel
Der Schriftsteller Roger Willemsen vermutete hinter der Feuilletonkontroverse ein Gesellschaftsspiel

Foto: JOHANNES EISELE/ AFP/ Getty Images

Dass große Erschütterungen nicht unbedingt große Literatur zur Folge haben, entsprach einer Beobachtung, die Wolfgang Weyrauch veranlasste, von der Trümmerliteratur der konkreten Nachkriegsjahre zu behaupten, sie sei um den Preis der Poesie entstanden. Die allgemeine Erwartung eines großen Wurfs, dem die Ereignisse von 1989 den Stoff liefern sollten, geriet ebenso in die Zone der Enttäuschung wie jede Forderung zuvor. Literatur entsteht so nicht. Anstrengungen von Lektoren, Autoren eine Richtung zu geben, erschöpfen sich schnell. Unübersehbar ist das da, wo mit Geburtsdaten Kasse gemacht wird. Vor Jahren debütierte ein Schüler der neunten Klasse. Mit einer Weisheit, die seine Schulzeit wahrscheinlich nicht überlebt hat, erkannte er: „Wir sind alle Fleischbrocken in einer verdammten Chappi-Dose.“

Neunundachtzig beklagte Frank Schirrmacher „zwanzig Jahre Stillstand“ in der deutschen Literatur. Obwohl eine historisch beispiellose Förderung den Nachwuchs begünstige, brächten die alimentierten Autoren nicht mehr fertig, als „die abgegriffenen, unproduktiv gewordenen Denkbilder einer veralteten Avantgarde“ weiter zu verschleißen. Volker Hage antwortete im Spiegel. Seine Einwände begründete er mit Werken „jüngerer“ Autoren. Er führte Botho Strauß und Edgar Hilsenrath an. Die aktuellste Gegenwartsliteratur (um 1990) könne immerhin mit „kleinen Perlen“ aufwarten. Hage meldete: „So überraschend es klingen mag: Die deutsche Literatur erlebte in den Achtzigerjahren, was rasche, große Auflagen angeht, eines der erfolgreichsten Jahrzehnte in ihrer Geschichte.“ In der „Zeit“ bestimmte Hubert Winkels seinen Standpunkt in doppelter Abgrenzung, namentlich von Schirrmacher und Hage, und Reinhard Baumgart repetierte die Differenzen bald darauf am selben publizistischen Ort.

Vermutlich wurde die Feuilletonkontroverse von ihren Teilnehmern auch als Gesellschaftsspiel aufgefasst. So sah das Roger Willemsen in einem Spiegel-Aufsatz aus dem Jahre 1992. Kühl zog er die Klammer: „Die Streitenden sind immer dieselben, sie kennen sich untereinander so gut, dass sie ihre Botschaften auch über die Theke austauschen könnten.“ Willemsen, der bei dem Gespräch unter Redakteuren keine Investitionen schützen musste, prägte das Wort von der „intellektuellen Autofellatio.“

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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