Frauen in der Optimierungslücke

Deutsch-Israelische LT Auf der dunklen Seite des Lebens verliert man leicht seine bürgerliche Statur - Im Rahmen der Deutsch-Israelischen Literaturtage ...

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... präsentierte Produzent Liran Atzmor seine „Defense Files“ im Roten Salon der Berliner Volksbühne.

Liran Atzmor im Gespräch mit Christian Römer

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Zerknautsche Anwälte, die als Pflichtverteidiger der Gosse selbst grottig geworden sind, liefern einem Subgenre des Kriminalromans merkwürdige Figuren. Sie haben ihren Mandanten wenig voraus. Ihre Lebens- und Arbeitsmoral ist auf den Strecken der Ernüchterung geblieben. Sie rauchen zu viel und gucken lieber in ein Glas als in die Akten. In Israel erfüllen oft Frauen diese literarischen Klischees als echte Pflegerinnen des Strafrechts. Die Gewährleistung der Grundrechte, die eine zivile Gesellschaft auch ihren Delinquenten garantiert, wird schlecht bezahlt. Die Optimierungslücke schließen Frauen.

„Wenn es nichts zu verdienen gibt, dann machen es die Frauen.“

Das erklärte Liran Atzmor im Gespräch mit Christian Römer am zweiten Tag der Deutsch-Israelischen Literaturtage im Roten Salon der Berliner Volksbühne. Atzmor produzierte die sechsteilig in Serie gegangene, den israelischen Strafrechtsalltag erhellende Dokumentation „Defense Files“ (Regie: Moish Goldberg). Römer arbeitet für die Heinrich Böll Stiftung, die gemeinsam mit dem Goethe Institut die Deutsch-Israelischen-Literaturtage veranstaltet.

Die Verteidiger*innen wirken oft wie Sozialarbeiter*innen und das Fleisch an ihren Fällen erscheint ebenso schwach wie willig. Auf der dunklen Seite des Lebens verliert man leicht seine bürgerliche Statur. Das zeigt „Defense Files“. Täter treten wie Opfer auf. Ein der staatlichen Gewalt unterworfener Gewalttäter erlebt sich selbst unwillkürlich als Ausgesetzter. Er feilscht mit seiner Verteidigerin, die ihn unter anderen Umständen bedrohlich fände. Sie kämpft für einen potentiellen Feind. Einem Mann, dem die hundertfache Vergewaltigung seiner Tochter zur Last gelegt wird, beruft sich darauf, dass sie als Jungfrau in ihre erste freiwillige Beziehung gegangen sei. Der Mann sieht aus wie ein verzweifelter Trottel und vermutlich erschöpft sich im Anschein schon die Wahrheit.

Die Kamera rutscht über Flure, eine Raumfürsorgerin trägt Müll vor die Tür. Die Normalität hält nicht inne, ihr ist die Verzweiflung der Eingesperrten egal. Das emotionale Gegenlicht kickt. Beiläufig kommen Emanationen der Freiheit ins Spiel und machen dramaturgisch Effekt. Ein akademisch nobilitierter Nahkampfexperte verwahrt sich noch nicht einmal halbherzig gegen den Vorwurf der Verfälschung eines Personalausweises. Ihn befreit das Unrechtsbewusstsein einer Nacktschnecke. Er verkörpert die Einstellung: Das Leben ist ein Deal. Wem muss ich jetzt die Hände waschen?

Die Deutsch-Israelischen Literaturtage gehen 2018 unter der Überschrift „Fair enough? Was ist gerecht?“ über die Bühne. Die Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit gehört zu den Anfängerübungen im Strafrecht. Der Segen einer ordnenden Kraft liegt in blinder und sturer Gleichmäßigkeit. Alle sollen die Gewissheit haben, nach unflexiblen Regeln gleich behandelt zu werden. Das allein gewährleistet Rechtssicherheit. Hat man das auf eine stumpfe Weise verinnerlicht, so wie die Pflichtverteidiger*innen und Beschuldigten in der Serie, ergibt sich eine Verhaltensautomatik, die nur Außenstehenden kurios vorkommt. Das beobachtet der Zuschauer: die Ausrichtung des Verhaltens nach der Straferwartung.

Der Experte hängt von Kokain ab, also ist die Rede von Beschaffungskriminalität. Die Komfortbedürfnisse eines Süchtigen werden heruntergefahren, bis nur noch ein Skelett der Not durch die Argumentation schimmert. Das ist natürlich nicht nur für den Zuschauer durchschaubar. So wird das Gericht zur Bühne und die Verhandlung zur bewährten Farce. Das Gerichtsgeschehen sieht man nicht. Die Folgen enden in der Vertraulichkeit des Mandantengesprächs – in Präparationen und Beteuerungen auf Korridoren und in Kammern. Anflüge von und Ausflüge in die Kumpanei zwischen den voneinander Abhängigen finden statt.

„Defense Files“ wurde 2014 in einem Spartenkanal gesendet und modifizierte gesellschaftliche Begriffe von der Strafrechtspraxis. Der analytische Gehalt der Serie verbirgt sich in anekdotischer Evidenz. Atzmor beschrieb im Gespräch zutreffend, woran jeder Prozess krankt: „Suggestionen sind stärker als Erinnerungen.“ Suggestionen können die Wahrheit ersetzen. Unter dieser Erosion leidet nicht nur die Gerechtigkeit. Sie erzwingt jedenfalls eine streng formale Vorgehensweise. Das begreift man vor Gericht. „Defense Files“ dokumentiert die Dramen in den Kellern des Offiziellen.

https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/3530/deutsch-israelische-literaturtage-2018-tv-serie-defense-files

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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