Gleitender Signifikant

Stuart Hall Nichts beweist eine größere Resistenz gegen Erkenntnisse als das Ressentiment. Wir sind darauf angewiesen, schnell zu urteilen, und da hilft das Vorurteil.

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Die weiße Welt kommt aus dem Geist pflügender Pioniere – macht euch die Erde untertan. Wo immer sie Neuland entdeckten, war es ihr Land und die Leute, die sie antrafen, sahen ihnen höchstens ähnlich. Sie unterschieden zwischen wilden und zahmen Wilden, in Lateinamerika unterschieden sie den Indio manso vom Indio salvajes. In ihrem Begreifen sympathisierte jeder Kulturfolger, so wie Silberfische und Wanderratten, erfolgreicher mit den Zivilisationsgesandten als die Indigenen. Die katholische Kirche bewahrte dem „Indio manso“ ein Daseinsrecht in seiner Verniedlichung. Sie stellte ihn als Kind der Wildnis hin. Den Mut, die Sache blutig zu Ende zu bringen, forderten andere. Sie nannten es Feigheit, den aus dem Kuckucksnest der Steinzeit gefallenen Wilden im Elend zu lassen, wo er doch nichts anderes als das Elend vererben konnte.

Die kolonial-rassistischen Muster haben ihren Ursprung in schockhaft-traumatischen Begegnungen neuzeitlicher Typen mit altzeitlichen Exoten. Bis dahin war all das, was es zum Beispiel auf der seit der Antike gedachten Terra Australis tatsächlich gab, nur geträumt worden. Das kollektive Unbewusste Europas fand in Amerika, Afrika und Australien seine stärksten Bilder der Andersartigkeit. Das Andere (der Fremde in seiner natürlichen Umgebung) wurde der Natur (Barbarei) zugeordnet, während sich die Raumfahrer des Mittelalters distanzierten. Aus ihren Albträumen sind rassistische Ressentiments gemacht.

Nichts beweist eine größere Resistenz gegen Erkenntnisse als das Ressentiment. Wir sind darauf angewiesen, schnell zu urteilen, und da hilft das Vorurteil. Das erklärt im Verein mit den Machtverhältnissen, warum Menschen nicht aufhören, etwas für biologisch zu halten, was nur einer Konvention entspricht, oder um Hall zu zitieren, „Rasse ist ein gleitender Signifikant“. Der in seinen besten Zeiten zwischen Oxford und Harvard pendelnde Kulturwissenschaftler zieht „Rasse“ oft, aber nicht immer aus dem Rahmen der Markierung eines kontaminierten Begriffs. Postum veröffentlichte Vorlesungsmanuskripte aus dem Jahr 1994 weisen beide Schreibweisen auf. Die Texte liegen nun auf Deutsch vor. Hall zeichnet darin das „verhängnisvolle Dreieck“ Rasse, Ethnizität und Nation, sich beziehend und berufend auf so wie hinausgehend über W. E. B. Du Bois – einem Vorarbeiter des Civil Rights Movement.

Stuart Hall, „Das verhängnisvolle Dreieck – Rasse, Ethnie, Nation“, aus dem Englischen von Frank Lachmann, Suhrkamp, 209 Seiten, 28,-

Halls Einfälle drehen sich um Kulturbefehle, die Hierarchien dann noch garantieren, wenn jemand Ethnie oder Kultur statt „Rasse“ sagt. Vermutlich ist es noch nicht mal wichtig, ob in der Verwendung dieser Wörter eine Überzeugung veröffentlicht wird oder ob jemand gerade Kreide frisst.

Hall bezeichnet „Rasse“ als eine „Meisteridee der Klassifizierung“ und als „Herzstück“ einer Herrschaft, die Differenz zu ihrem Vorteil produziert. Jede Gegenformel beweist die Kraft des Rassismus.

Hall zeigt, warum „Rasse“ sich als konfrontative Kategorie nicht einfach selbst in der Ethnizität zum Verschwinden bringt. Er macht klar, wie tradierte Erwartungen (etwa einer geringeren Intelligenz bei Schwarzen) als Barrieren noch in den Überwindungen rassistischer Denk- und Sprechweisen Standfestigkeit beweisen. Hall bleibt da nicht stehen. Er entwickelt einen diasporisch-pluralen Begriff von Identität. Er trifft sich mit Patrick Chamoiseau in der Einschätzung von Folgen im Kolonialstil vernichteter indigener Ökonomien. Es sind die Elendsverweigerer, die den Druck an Europas Schmerzgrenzen aufbauen.

Stuart Hall, „Das verhängnisvolle Dreieck – Rasse, Ethnie, Nation“, aus dem Englischen von Frank Lachmann, Suhrkamp, 209 Seiten, 28,-

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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