Herbst in Neuengland

Feminismus In „Der Schmerz Fremder“ erzählt Chimamanda Ngozi Adichie von der seelischen Einsamkeit einer von eigenen Gnaden Expatriierten.

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Indian Summer bezeichnet ein nordamerikanisch-kanadisches Naturwunder. Chinechelum erlebt auf einer Fahrt zum Flughafen visuelle Detonationen.

Chimamanda Ngozi Adichie, „Mehr Feminismus“, 112 Seiten, 8.-

„Sie schaute aus dem Fenster zu den Bäumen, deren Laub beerenrot oder von der Farbe reifer Bananen war“, während sie die Einschwörungen ihrer Mutter durchrauschen lässt.

Chinechelum soll sich einem jungen Mann namens Odin gegenüber aufgeschlossen zeigen. Er erwartet sie in London, die Mutter fürchtet, ihre Tochter könne den Verehrer verstören. Chinechelum findet die (Odins Empfindlichkeiten betreffende) Sorge der Mutter übertrieben und kritikwürdig. Sie hält sich zurück, um auf den letzten Metern vor dem Start keinen Streit zu riskieren.

Chinechelum besitzt „die unheimliche Fähigkeit, den Schmerz von Fremden nachzuempfinden“.

Nach einer Zeit der freiwilligen Isolation leidet sie unter Anpassungsschwierigkeiten; Gruppenerlebnisse lösen Unbehagen aus.

Chinechelums Fazit:

„Niemand (spricht) über etwas anderes als über sich selbst.“

Adichie schildert eine junge Frau, die weltläufig genug ist, um London klein zu finden. Chinechelum belustigt das nachgemachte Amerikanisch ihrer nigerianischen Verehrer. Sie entlarvt Hochstapler. Sie sieht nicht ein, wieso sie sich für einen Anwärter besonders ins Zeug legen soll.

In London wohnt sie bei einer Verwandten, die ihr mit einem konventionellen Frauen- und Ehebild auf die Nerven geht. Auf der Zugspitze ihres Beobachtungsvermögens erkennt Chinechelums Cousine Amara, dass in Europa die nigerianischen Klassenschranken brechen und „Emporkömmlinge“ sich Gesellschaftsplätze anmaßen, die ihre Herkunft in Nigeria nicht vorsieht.

Adichie bleibt stets am feministischen Ball. Jede Szene dient dem falschen Bewusstsein als Allgemeinplatz und wird von dem Angelus Novus der Erzählung neu vermessen. Die Begegnung mit Odin klärt sie noch einmal auf:

„Es hätte auch jede andere Frau sein können, jede andere gebildete Nigerianerin, die im Ausland lebte.“

Chinechelum erscheint kaum verbunden mit der Realität der Vielen. Die Emanationen der Migration betrachtet sie von erhöhter Warte. Der Witz dabei: in den Augen ihrer Verwandten verliert sie ihre Überlegenheit. Die intellektuelle Strahlkraft interessiert nicht.

Chinechelum braucht einen Mann, der sie ehrlich macht. Sie muss unter die Haube. Das ist die Fremdwahrnehmung. Die Selbstwahrnehmung gestattet ein Behagen, das alles Mögliche distanziert. Als „dunkelhäutige Schönheit“ an der Seite eines Nobilitierten wird sie unansprechbar.

„Er hat Ihnen ein Kompliment gemacht.“

„Nein, er hat Ihnen ein Kompliment gemacht. Wie man jemandem ein Kompliment macht, der ein tolles Rennpferd besitzt.“

Die Autorin verrät nicht, ob die Zurechtweisung, die richtige Einordnung einer rassistischen Bemerkung, bei dem Mann ankommt, der Chinechelum die Zeit vertreibt. Das ist so gut. Adichie unterläuft alle Erwartungen, auch die eines hingebungsvollen Lesers. Alles bleibt in der Schwebe, bebt nach und verändert sich, bis sich Chinechelum wieder in eine Zukunft aus Gedanken und Phantasien zurückzieht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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