Integrationsfetische

Jüdische Perspektiven An was wir uns schon wieder alles gewöhnt haben - “Allianzen” auf dem Kongress jüdischer Perspektiven im Gorki Theater mit Kantorowicz, Yılmaz-Günay, Utlu, Mangold ...

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Liad Hussein Kantorowicz kultiviert den Trümmerfrauenlook mit Berliner Kopftuch. Die Aktivistin trägt Verliererschick von Fünfundvierzig zur Schau. Ihre Arbeiten sind Entmystifizierungen sexueller Querverläufe. Der Schriftsteller Deniz Utlu fragt sie in seiner Eigenschaft als Moderator nach der politischen Relevanz ihrer Kunst. Kantorowicz macht Politik ohne Ach, während der in Deutschland lebende, syrische Autor Assaf Alassaf gegen seinen Willen politisch gelesen wird.

Zwischen Krieg, Flucht und Alltag in der Migration sind alle Reaktionen politisch. So was ist immer schlecht für die Kunst, würde Heiner Müller jetzt sagen. Aber der ist nicht da. Stattdessen sitzt da Alassaf und fühlt sich aus der Rolle des Dichters in die Rolle eines Vermittlers abgeschoben.

Koray Yılmaz-Günay liegt Vermittlung. Sein Rezeptionspuls beweist vorbildliche Fitness. Er erklärt, wie ein neuer mehrheitsgesellschaftlicher Diskurs mit Unterstellungen operiert. Man unterstellt Minderheiten Homophobie, Misogynie und Antisemitismus als unabweisbare kulturelle Mitgift.

Demagogen ordnen ihren Stammtischsexismus Minderheiten zu und missbrauchen sie so klassisch als Sündenböcke.

Mit gefakten Frauenrechtsdebatten wird Rassismus angeheizt. Zynisch setzen autochthone homophobe Hardcore-Rassisten Schwule und Juden auf die Galeeren ihrer Infamie. Kantorowicz findet weitere Beispiele für solche Instrumentalisierungen. Sie sagt: “Minderheiten lassen sich mit dem Terrrorismus-Label stigmatisieren.”

Diese Offensiven zwingen Aktivisten in schwierige Allianzen.

“Ich bin nicht gläubig”, erklärt Alassaf. Geht es aber gegen Muslime als einer Minderheit, zähle ich mich dazu. Das hört sich besser an als es sich liest.

Auch Kantorowicz berichtet von Situationen, in denen sie jüdische Positionen förmlich repräsentiert, obwohl ihr Jüdischsein nur eine und durchaus keine vorpreschende Minderheit neben anderen in ihr sei.

Ijoma Mangold tritt als Mann der Bewusstseinsindustrie auf.

“Wenn ich öffentlich rede, erfülle ich ein bestimmtes Format. Es erscheint mir hochstaplerisch, das politisch zu nennen.”

Mangold bestreitet den besonderen Reiz der Legenden vom Authentizitätsvorsprung “Realpartizipierender”. “Anders gelagerte Lebenserfahrung” brächten niemanden zwangsläufig der Wahrheit näher. Warum also Migranten mit besonderer Deutungsmacht ausstatten.

Yılmaz-Günay klammert schließlich die Restauration ein, “von der wir alle es nicht für möglich hielten, dass sie uns zu Lebzeiten einholen könne”. Dass “biologistische Erklärungen wieder salonfähig sind”. Plötzlich weiß der weiße Mittelstand alles über die Kulturen der Minderheiten. Das hinter dem “Integrationsfetisch” sich aufstauende ’wir’ sei “faschistisch”.

Kantorowicz genial: “In diesem Kontext bin ich nur jüdisch. Das sagt über meine Identität nichts aus.”

Ja, an was wir uns schon wieder alles gewöhnt haben.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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