Iranische Kulturrevolution

Ramita Navai begegnet dem Ungeheuer Alltag auf den Straßen Teherans

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Morteza ist anders. Erniedrigen die Freunde wieder einmal einen Verkehrsteilnehmer, dessen westlich-dekadente Aufmachung eine Protestnote haben könnte, plädiert Morteza für Mäßigung. Das setzt ihn einem furchtbaren Verdacht aus.

“Du lässt uns dauernd im Stich, Bruder” heißt es. “Stimmt es, was man so hört?”

Morteza gehört zu einer Islam-SA. Basidsch-e Mostaz'afin ist Miliz, Hilfspolizei, paramilitärischer Verband im Geist der iranischen Kulturrevolution. Berauscht von der Macht aus Coltläufen (ungefähr Mao) setzen Heranwachsende die staatliche Kleiderordnung auf Teheraner Straßen terroristisch durch. Sie filzen einen Untergrund, in dem Drogen genommen, Pornos gehandelt und geistliche Würdenträger zu Freiern werden.

Ramita Navai berichtet davon in ihrer Reportage “Stadt der Lügen - Liebe, Sex und Tod in Teheran”.

Man glaubt, einen Roman zu lesen, so verdichtet sind die Schilderungen. Doch versammelt der Titel ausschließlich Rechercheresultate. In einer summarischen Betrachtung ergibt sich das Bild einer an allen Ecken und Enden erodierenden Gesellschaft; eines vergiftenden Einflüssen ausgesetzten und nachgebenden Gemeinwesens. Der bürgerliche Widerstand gegen die Theokratie der Mullahs markiert nicht die Hauptkampfzone. Angestrebt werden größere Freiheiten innerhalb einer autoritären Staatsform.

“Bijan war erleichtert, als er Teheran und die schlechte Luft hinter sich ließ, die seine Augen zum Brennen brachte”. Das altgewordene Straßenkind brettert durch den Staub, hört Rap, hält für “ein herzhaftes Bauerngericht” und bietet der Regierung die Stirn, wo immer sie sich bemerkbar macht. Man widersteht dem feudalen Ungeheuer Staat mit abgedeckten Gewinnen an der Kosmetikfront. Die Schönheitsindustrie boomt. Es gibt eine metrosexuelle Strömung auch für den Macho. Invertierte Kommandanten erklären den Objekten ihrer Begierde die Penetration als Vereinigung mit Gott. Droht eine Razzia, sagt der Polizeichef der Kamarilla seines Quartiers Bescheid. Er hat doch nur die Straßenseite gewechselt und weiß, wo er hingehört, wenn es hart auf hart kommt. Todesurteile werden zur Last für einen Richter, der mit dem Elan des Ruhollah-Musawi-Chomeini-Jüngers Jahrzehnte Dienst tat. Nun stalkt er im Erlösungsfieber den Sohn eines Paares, das er dem Henker überlassen hat.

Jemand behauptet, Mekka bepilgert zu haben zum Zeichen besonderer Frömmigkeit und war doch nur in Thailand zu den üblichen Tarifen. Zu seiner Verteidigung führt er an, er habe seine sexuellen Wünsche der eigenen Frau nicht zumuten wollen. Eine Scheidung ist für die hintergangene Gattin mit totalem Statusverlust verbunden und kommt deshalb nicht in Frage.

Religiöse Traditionalisten fühlen sich endlich halbwegs richtig repräsentiert. Ihnen ist alles recht, was dem Westen Schranken setzt. Die Leute leben in ihren Vierteln in wenig permissiven Verhältnissen. Eine Kultur der nachbarschaftlich-familiären Überwachung zwingt alle zur Bigotterie. Standesdünkel und Traditionsbewusstsein treffen reglementierende Verabredungen. Eine alleinstehende, womöglich geschiedene Frau muss sich Bedrängungen erwehren und fände doch nur in einer Ehe wieder einen akzeptierten Rahmen - oder als Prostituierte ausreichendes Einkommen.

Mich erinnert Navais literarischer Journalismus an Marie-Luise Scherers “Ungeheuer Alltag”. Es wäre naiv anzunehmen, dass in den Hochhöfen der Poesie die Wirklichkeit nicht immer wieder durchbrennen würde. Die Gangster und Straßenkinder in der Stadt der Lügen sind jedenfalls nicht erst seit Charles Dickens weltweit unterwegs. Das sind nicht allein soziale Archetypen, sondern auch poetische.

Ramita Navai, Stadt der Lügen - Liebe, Sex und Tod in Teheran, aus dem Englischen von Yamin von Rauch, Kein & Aber, 288 Seiten, 22,-

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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