Jugendbewegung als Revolution

Jüdische Jugendbewegung Georg Lubinski (1902–1974), einer der führenden Vertreter der jüdischen Jugendbewegung, proklamierte kämpferisch im Jahr 1926: „Jugendbewegung ist Revolution“.

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„Die Jugendbewegung sah die fortschreitende Individualisierung der deutschen Gesellschaft kritisch, daher betonten auch (Akteurinnen aus den Mädelschaften) die Bedeutung der Einheitlichkeit, die über der Individualität der Mitglieder, aber auch über der Eigenständigkeit der Ortsgruppen zu stehen habe.“

Wir reden weiter über den vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebenen Sammelband „Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung“, Konzept und Redaktion: Doron Kiesel, Hentrich & Hentrich, 24,90 Euro

Die Verfasser:innen der Beiträge sind Partizipant:innen der Geschichte, die sie memorieren. Zugleich sind sie Schrittmacher:innen der Entwicklungen, die sie referieren.

„Die Geschichte der jüdischen Jugendbewegungen (interpretieren sie) als prägnanten und zugleich ambivalenten Ausdruck des Modernisierungsprozesses mitteleuropäischer Gesellschaften“.

Sämtliche Prozesse kulminieren auf zwei diasporischen Achsen. Auf der Kreuzung treffen sich die Hauptvarianten. Während Doron Kiesels Eltern „den Weg nach Palästina, in den späteren Staat Israel“ fanden, überlebten „Micha Brumliks Eltern die Zeit von 1933 bis 1945 in Europa.“

„Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 erstarkten als Antwort auf eine zunehmend feindselige Umwelt jüdische Jugendbewegungen in Deutschland. Viele von ihnen waren zionistisch ausgerichtet – die Jugendlichen setzten sich mit ihrer Zukunft auseinander. Ein wichtiges Ziel war, die Alija (wörtlich „Aufstieg“), die Auswanderung von Juden nach Erez Israel, damals britisches Mandatsgebiet Palästina, zu fördern.“ Quelle

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Georg Lubinski (1902–1974) „proklamierte kämpferisch im Jahr 1926: Jugendbewegung ist Revolution“. Er setzte sich ab von Wohlfahrt und Fürsorge. Für ihn und andere ging es in erster Linie um Hilfe zur Selbsthilfe. Verhaltener äußerte sich die Soziologin Hilde Ottenheimer (1896–1942). Sie erkannte immerhin „einen Gegensatz zwischen Jugendbewegung und sozialer Arbeit“.

Lubinski war ein vehementer Repräsentant der jüdischen Jugendbewegung. Er edierte das Periodikum Der junge Jude. Es erschien seit Januar 1928 zunächst in zweimonatlicher Folge, bald jedoch mit Verzögerungen. Die Zeitschrift wurde vermutlich im Frühjahr 1931 eingestellt. Der Titel der von Georg Lubinski herausgegebenen Zeitschrift war Programm: Das Blatt richtete sich vornehmlich an zionistische Jugendverbände, deren Mitglieder und Sympathisanten über die Aufgaben der Vereinsarbeit informiert wurden. Den eigentlichen Schwerpunkt bildete die Berichterstattung über die von Osteuropa ausgehende, auf die Kolonisation Palästinas gerichtete Chaluz-Bewegung.“ Quelle

„Das Ideal des neuen Juden wurde vor allem in den Chaluzim – den Pionieren – verkörpert. Das hebräische Wort Chaluz wurde in der jüdischen Publizistik erstmals im Zusammenhang mit der ersten zionistischen Siedlergruppe Bilu verwendet.“ Quelle

Ich zitiere aus Sabine Herings Betrachtung „Wir wollen die Seele. Die jüdische Jugendbewegung, ihre sozialen Aufgaben und die Hilfe zur Selbsthilfe“.

Zionistischer Existenzialismus - Grandiose Bewährungsmetaphorik

„Für das Schwarze Fähnlein lautete das Motto der bündischen Selbsterziehung Künstler, Forscher und Soldat.“

Assimilierungsbestrebungen und zionistische Emanzipation kreuzten sich mannigfaltig. Ob bündisch oder zionistisch: man strebte einer „neuen Zeit“ entgegen. In jedem Fall wurde Härte gefordert, auch in den Mädchen- und Frauen-Gemeinschaften, die innerhalb der Verbände von „männlicher Hegemonie marginalisiert“ zu werden drohten. Leiterinnen jüdischer „Mädelschaften“ sprachen sich gegen das „Salonvagabundieren“ aus. Sie postulierten einen zünftigen Rigorismus „auf Fahrt“.

„‘Wisst Ihr denn, was auf Fahrt gehen heisst?‘

Sicher nicht mit der eben erstandenen Kohte und den eigens in der Fabrik dafür angefertigten Kohtenstangen Samstag Sonntag in die Heide gehen.“ (Originalschreibweise)

„Trampen, Zelten, Appellstehen, die Nachtwache und Führerräte sowie Diskussionen um Deutschtum und Judentum gehörten für die 15-Jährige (Frankfurterin Carola Rosenthal) zum selbstverständlichen Lebensinhalt in ihrer Frei- und Ferienzeit.“

Überall klingt der gesellschaftliche Auftrag an und das Sendungsbewusstsein durch.

„Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk bewerteten die Mitglieder aber zumeist höher als die ihnen ferne oder unbekannte jüdische Tradition.“

Ich beziehe mich zumal auf den Beitrag von Lieven Wölk, der herausstreicht, wie nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Identifikation junger Juden und Jüdinnen mit der Mehrheitsgesellschaft systematisch hintertrieben wurde. Der NS-Staat förderte religiös grundierte Separationen von den regulären Abläufen.

Der Wunsch, in der Mitte zu ankern, lässt einen Engagierten poltern: Wer „alle Welt unsicher macht, indem es sagt, man dürfe (samstags) nicht zur Schule, sondern müsse in die Synagoge gehen, das hat als Antwort nichts als ein paar Ohrfeigen verdient ... Vom Judentum, von seinen Gesetzen haben sie keine Ahnung, denn dann wüssten sie, dass Staatsgesetz bei uns über Religionsgesetz geht.“

Unter dem Druck der Ausgrenzung erfolgt der Schulterschluss in schrecklichen Erkenntnisprozessen. Jugendbewegte, die sich in erster Linie als Deutsche erlebten, entwickelten zu den aufgezwungene Zuschreibungen ein Verhältnis, das ihre Distanzierung zur Geltung brachte.

Zionistische Fotografie und bündische Jugend

Die Ikonografie des pionierzionistischen Aufbruchs in den 1920er Jahren nahm existenzialistische Elemente vorweg.

„Typisch für die professionelle zionistische Fotografie der bündischen Jugend in Deutschland und im Palästina der Dreißigerjahre war, dass die Bildräume, in denen die jungen Menschen auftraten, offen, weit und häufig leer waren. Der am häufigsten gewählte Bildhintergrund dieser Zeit war der (zumeist wolkenlose) Himmel.“

Man setzte auf Kontraste, helles Licht und harte Schatten und spekulierte auf eine heroische Ästhetik.

Stärke durch Formation

Die Jugendbewegungen der Weimarer Republik wandten sich im Ganzen gegen Individualisierung. Angehörige jüdischer „Mädelschaften“ feierten Drill, Appell und Kluft im Verein mit nicht jüdischen Akteur:innen.

„Kluft ist unbedingt notwendig. Sie ist äußeres Zeichen der inneren Verbundenheit.“

Man wollte ein einheitliches Bild abgeben und als etwas „Ganzes, Unteilbares“ erscheinen. Das Halstuch firmierte als „Distinktionsmerkmal“, da es verliehen wurde.

„Die nationalsozialistische Reichsjugendführung sah im Auftreten der bündischen Jugend eine Konkurrenz zur „Staatsjugend“ und verbot den jungen jüdischen Deutschen 1934 das Wandern in uniformierten Gruppen unter Fahnen.“

Manche „Mädelschaften“ orientierten sich an den (männlichen) Pfadfindern, andere fanden das Modell überholt. Folglich kritisierten sie die Überwertung technischer Fertigkeiten als Lernziele der Geführten. Es gäbe Wichtigeres als Sternbilder erkennen und trapperesk deuten zu können.

Meinungsführerinnen stellten ihrer Gegenwart „klassische Zeitgeistatteste“ aus. Sie wähnten sich in einer „degenerierten und individualisierten Nachkriegsgesellschaft“. Auf der anderen Seite gab es Zusammenschlüsse, deren herausragenden Protagonistinnen sich gegen Hierarchien aussprachen und die Abschaffung von Rangordnungen meldeten.

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Robust sollten sie sein. „Eine harte, starke, gesunde Jugend entsprach ... dem Jugendideal während der Aufbaujahre Israels. Dieses bestimmte die Auswahlkriterien für die Jugend-Alija* mit und war insbesondere für die Auswahl in den DP-Lagern, beispielsweise auf Zypern** nach 1945, ausschlaggebend. In diesen Lagern wurden vor allem die willensstark und gesund erscheinenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Vertretern zionistischer Gruppen als besonders geeignet in den Blick genommen.“

Das größte Ding seit Gone with the wind

*Aliyahbedeutet im Hebräischen Aufstieg. Elaboriert man den Begriff, bedeutet Aliyah das Ende der Diaspora und die Heimkehr aus der Zerstreuung. Es gab eine vormoderne Aliyah im osmanischen Palästina. Die Restriktionen unterlaufende Einwanderung (im Rahmen der britischen Mandatsmachtausübung) nannte manAliyah Bet.

**1915 errichteten die Briten auf Zypern in der Gegend von Famagusta ein Kriegsgefangenenlager. Ab August 1946 internierten sie in dem maroden Verhau jüdische Migrant:innen, nachdem sie dazu übergegangen waren, Schiffe aufzubringen. Mit militärischen Mitteln unterbrachen sie Passagen nach Palästina. Bald platzte das Lager aus allen Nähten. Deshalb wurde in Karaolos ein neuer Schauplatz britischen Versagens eröffnet. Auf die Traumatisierten des Holocaust wirkte die Internierung wie noch ein wahr gewordener Albtraum. In London war man peinlich berührt.

Auf dem absteigenden Ast fürchtete das Empire nichts mehr als eine schlechte Presse

Britannia rules no longer the waves. Das Imperium bröckelte, die Zeit der Selbstherrlichkeit endete mit lauter Verlusten. Während Großbritannien die Weltbühne verließ, wussten Aliyah Bet-Agent:innen die Klemme zu nutzen, in der die unterhöhlte Mandatsmacht steckte. Großbritannien wurde mit den gleichen Methoden angegangen, die einst in der Regie von Großbritannien zum Niedergang des Osmanischen Reichs geführt hatten.

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In den Jahrzehnten vor der israelischen Staatsgründung strebten zionistische Jugendbewegungen in Deutschland nach der „Tauglichmachung für die Auswanderung“ in Hachschara-Stätten. Sie erzeugten ein legendäres Bild von widerstandsfähigen und willensstarken Pionier:innen. Der Psychiater Arnold Merzbach (1896–1952) stellte bald fest, dass nicht wenige deutsche Einwander:innen an beiden „Zeithorizonten (auf sich selbst und auf ihre biografische Not zurückgeworfen wurden. Sie pendelten zwischen) Erlebnis- und Erwartungsangst“.

Juveniler Idealismus

In seiner 1962 erstmal publizierten Studie über die deutsche Jugendbewegung bezeichnete Walter Laqueur (1921–2018) seinen Forschungsgegenstand als einen „Mikrokosmos der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“.

Das referiert Barbara Stambolis in ihrem Aufsatz „Bewegte Jugend – Jugendbewegung(en) im 20. Jahrhundert: Aspekte deutscher und deutsch-jüdischer Geschichte“. Laqueur beobachtete nach dem II. Weltkrieg, so überliefert es Stambolis „irritiert“ Renaissancen des „jugendbündischen Stils (aus) der Endphase der Weimarer Republik“. Die Propagandist:innen der Zukunft sangen Lieder der Vergangenheit. „Zu ihrem Repertoire gehört(e) „Die grauen Nebel hat das Licht durchdrungen“.

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Es gab zionistische Pfadfinder:innen und Wandervögel. Die Heranwachsenden betrieben Gruppenbildung in Vereinen, die Blau-Weiß, Deutsch-jüdischen Wanderbundes Kameraden und Schwarzes Fähnlein hießen. Sie „fühlten sich als Deutsche“ und wähnten sich auf einer Erfahrungshorizontlinie mit allen, „die zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“ die Kindheitshaut abstreiften.

„Im Frühjahr 1933 … wurde (Walter Laqueur) für einen jüdischen Jugendbund gekeilt, in dem man der Beschreibung nach das Schwarze Fähnlein erkennen kann (was WL später bestätigte). Der Bund war ein Spaltprodukt des 1932 aufgelösten Deutsch-jüdischen Wanderbundes Kameraden, meist wird er mit dem Adjektiv deutsch-national versehen, was nicht falsch ist, aber zugleich auch nicht dessen einzige Bestimmung war.“ Quelle

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Der jugendbewegte Idealismus der post-gründerväterlichen Generationskohorten gab seinen Drive auch an die Kibbuzbewegung ab.

„Ohne den aufopferungsbereiten Idealismus junger jüdischer Frauen und Männer seit der Jahrhundertwende wären die Besiedlung und Urbarmachung der Provinz Palästina im osmanischen Herrschaftsbereich und im gleichnamigen späteren britischen Mandatsgebiet ... nicht möglich gewesen.“

Makkabi Hazair*

*„Makkabi Hazair-Brith Hazofim (war eine) zionistische Pfadfinderorganisation und eine von vielen jüdischen Jugendgruppen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Alternative zu den zunehmend antisemitischen deutschen Pfadfindergruppen bildeten. Der Jüdische Pfadfinderbund Makkabi Hatzair entstand 1934 im Zusammenschluss vom Jüdischer Pfadfinderbund und dem Makkabi Hazair.“ Quelle

Aus der Ankündigung

Schriftenreihe der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland

Die Erneuerung jüdischen Lebens im späten 19. und 20. Jahrhundert spiegelt sich auch in der jüdischen Jugendbewegung wider, die sich Ende des 19. Jahrhunderts unter dem kulturellen Einfluss der deutschen Wandervogel-Bewegung und der britischen Pfadfinder-Bewegung und vor dem Hintergrund der reformpädagogischen Bewegung in Deutschland und Osteuropa formierte. Ihr Spektrum reichte von politisch weit rechts bis weit links, von zionistisch über „assimilatorisch“ bis hin zu deutschnational, von atheistisch bis zu streng religiös. Die Gruppierungen nannten sich „Haschomer Hazair“, „Kameraden“, „Betar“ und sogar „Vortrupp“ und waren teils dem freien Lebensstil der Wandervögel, teils dem Militarismus der „Bündischen Jugend“ verpflichtet. Diese Vielfalt war spätestens ab 1933 bedroht, 1938 wurden die letzten jüdischen Jugendbünde verboten. Einzelne Gruppen waren bis zuletzt am jüdischen Rettungswiderstand in Deutschland beteiligt. Mit der Einwanderung ins Land Israel gelangten auch die Lebensentwürfe und Überzeugungen der jüdischen Jugendbewegten in das britische Mandatsgebiet Palästina und prägten die politische Kultur des jungen Staates Israel entscheidend mit.

Der Band beleuchtet diese Vielfalt der jüdischen Jugendbewegung entlang verschiedener Gruppierungen und zentraler Akteure, auch mit Fokus auf einzelnen Städten, und gibt Einblicke in die jüdisch-jugendbewegten Anliegen, Aktivitäten und Debatten der 1910er- bis 1930er-Jahre. Dass auch nach 1945 die jüdische Jugendbewegung fortlebte, zeigt ein abschließender Blick auf die Situation im Nachkriegsdeutschland, in der DDR und auf die Jetztzeit

Mit Beiträgen von Doron Kiesel | Barbara Stambolis | Ulrike Kolb | Ulrike Pilarczyk | Marco Kißling | Knut Bergbauer | Jacob Snir | Maria Coors | Regina Scheer | Anke Kalkbrenner | Pava Raibstein | Hans Jakob Ginsburg | Jascha Nemtsov | Dominique Bourel | Micha Brumlik | Gert Mattenklott | Sabine Hering | Lieven Wölk | Lara Dämmig, Sandra Anusiewicz-Baer | Suska Döpp | Moshe Zimmermann | Aron Schuster

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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