Pathologie des Glücks

Kathrine Talbot In „Wie die Queen. Die deutsch-jüdische Geschichte einer sehr britischen Schriftstellerin“ erzählt Christoph Ribbat die Biografie von Kathrine Talbot

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Im Vorgriff auf ein dauerhaftes Exil weicht die Elevin 1935 in die Schweiz aus. Sie besucht die École internationale de Genève. Nach einer Verschärfung von Devisenbestimmungen muss Ilse Eva Louise Groß, die als Kathrine Talbot* zu literarischem Ruhm gelangen wird, die Schule abbrechen. Sie flieht nach England, wo sie sich zunächst als Haushaltshilfe verdingt. Ihre ältere Schwester und die Eltern zählen zu den Ermordeten des Holocausts.

*Kathrine Talbot (geboren 1921 in Frankfurt am Main; gestorben 2006 in Midhurst) war das Pseudonym von Ilse (verh.) Barker.

*

Luftalarm und Sonntagsbraten/Von Südlondon zur Südküste

Im August 1939 reist Ilse nach Hythe, einem Küstenkaff in der Grafschaft Kent. Am Strand liest die als Hausmädchen deklassierte höhere Tochter und Exilantin Kenneth Grahames Kinderbuchklassiker Der Wind in den Weiden.

Christoph Ribbat, „Wie die Queen. Die deutsch-jüdische Geschichte einer sehr britischen Schriftstellerin“, Insel, 24,-

Die Sommerfrische verdankt Ilse der Großzügigkeit ihrer Arbeitgeberinnen: drei Damen in einer Wohngemeinschaft. Sie weilt längst wieder an ihrem Arbeitsplatz im Südlondoner Speckgürtel, als ihre Eltern sich telefonisch ankündigen.

„Wir sehen uns nächste Woche.“

Ilse liest gerade Phyllis Bottomes antifaschistischen Roman The Mortal Storm, als Premierminister Chamberlain verkündet, „dass der Krieg begonnen habe“.

„Es gibt einen kurzen Luftalarm und dann den Sonntagsbraten und dann macht sie einen Spaziergang auf der sonnigen Straße.“

Nasty Germans/Enemy Aliens

Ihre Eltern wird Ilse nicht wiedersehen, so wenig wie ihre Schwester. 1940 deportiert man die Expatriierte. Der Krieg schürt die Paranoia und erzeugt neue Pathologien. Vor Hitler Geflohene sehen sich mit bizarren Unterstellungen konfrontiert. Man verdächtigt sie der Spionage für eine Macht, die ihnen das Existenzrecht abspricht.

„Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten etwa 75.000 Flüchtlinge aus NS-Deutschland in Großbritannien, die meisten von ihnen Juden, Repräsentanten der verbotenen Parteien und Regimegegner.“ Quelle

„Und jene Frage kam auf, welche geheimen Codes sie beim Wäscheaufhängen wohl aussenden könnten …The paltriest kitchen maid with German connections (is) a menace to the safety of the country.”

„Winston Churchill ordnete an, alle in den möglichen Invasionszonen Großbritanniens lebenden Deutschen und Österreicher unterschiedslos als Enemy Aliens zu internieren.“ Quelle

In einem Internierungslager auf der Isle of Man (mit freiem Blick auf die irische Ostküste) teilt sich Inge eine Matratze mit einer Frau aus ihrer Heimatstadt Bingen am Rhein. Die dialektsolidarischen Leidensgenossinnen teilen auch die Not schmaler Rationen. Kritik am Lagerregime schlägt als Insubordination zu Buche.

Deportationsodyssee

Ilse badet in der Irischen See. Die Presse stellt die Vergnügungsbeifänge der Gefangenschaft als „fröhlichen Inselurlaub“ dar.

Kurt Schwitters, Pamina Liebert-Mahrenholz, Dora Diamant, Magda Kelber und Edith Bach, „die Nachtigall von Königs Wusterhausen“, sitzen in Ilses Nachbarschaft ein; die Frauen von den Männern separiert.

Für viele Verbannte beginnt auf der Isle of Man eine Deportationsodyssee in Verlagerungen über die europäischen Grenzen hinweg. Ein maritimes Kriegsereignis verwitwet im Sommer 1940 auf einen Schlag eine große Anzahl festgehaltener Frauen. Getroffen von einem deutschen Torpedo, versinkt am 2. Juli der umfunktionierte Ozeanliniendampfer Arandora Star auf dem Weg nach Neufundland mit siebenhundert Deportierten an Bord.

Im Frauencamp begegnen sich Jüdinnen und nationalsozialistische Deutsche. Die Nazis wittern Morgenluft. Sie basteln ein Hakenkreuzbouquet aus Stechginster.

Pathologie des Glücks

Inge erlebt einen vom institutionellen Mangel beherrschten, von Initiativen erfüllten Alltag mit Kindergarten, Volkshochschule, Leihbibliothek und Lagerperiodika.

Christoph Ribbat lässt die Herkunftsgeschichte seiner Heldin Revue passieren. Der Vater überragt Ilses illustre Verwandtschaft; ein Weingroßhändler mit Eisernem Kreuz. Frappierend ähnlich sieht er Wilhelm II.

Herausragend erscheint ferner ein dreißig Jahre älterer Cousin: der deutsch-britische Psychiater Wilhelm Mayer-Groß, geboren 1889 in Bingen, gestorben 1961 in Birmingham. Siehe Zur Phänomenologie abnormer Glücksgefühle.

Im Jahr der Machtergreifung migriert Mayer-Groß nach London an das Maudsley Hospital. Er wird „zu einem wichtigen Promotor psychiatrischer Forschung in Großbritannien“. Quelle

Aus der Ankündigung

Ilse Groß ist vierzehn, als sie allein aus Deutschland flieht. Und sieben Jahren nach Kriegsende erlebt sie ihren Durchbruch als englischsprachige Schriftstellerin. Ihr Pseudonym: Kathrine Talbot.

Wie die Queen erzählt von einer Frau, die in Großbritannien deportiert, interniert, gefeiert und geliebt wird. Jahrzehntelang kämpft sie damit, ihre deutsch-jüdische Familiengeschichte in Literatur zu verwandeln. Als es ihr gelingt, ist es fast schon zu spät.

Zum Autor

Christoph Ribbat lehrt am Institut für Anglistik/Amerikanistik der Universität Paderborn. Sein Buch Im Restaurant stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und wurde in vierzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien bei Suhrkamp Die Atemlehrerin: Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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