Suggestive Nachbilder

Literatur Emily Dickinson könnte auch der Name einer Revolverheldin sein. Die Schauplätze ihrer Kindheit und Jugend liegen im Wilden Westen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zwei Ansichten - Emily Dickinson könnte auch der Name einer Revolverheldin sein. Die Schauplätze ihrer Kindheit und Jugend liegen im Wilden Westen. Schauen wir mal, wie sich Dominique Fortiers szenische Romanbiografie „Städte aus Papier. Vom Leben der Emily Dickinson“ und Siegried van Houtens zeitgenössischer Zögling Törleß-Abklatsch vertragen.

Magischer Bannkreis

„Wir müssen uns Namen geben, die uns nicht verraten.“

So fängt es an, mit einem Satz wie aus einem Kinderbuch. Siegried weiß schon, wie sie heißen will: Kāhina. In dem Wort stecken Welten. Ein hebräisch grundierter, tempelzeitlicher, von Kohanim-Altaragenten abgeleiteter Begriff wurde im Land der Imazighen sagenhaft als Name einer Königin, die sich gegen die Arabische Eroberung des Maghreb im Zuge der islamischen Expansion stemmte. Sie hieß außerdem Dihya.

„Sei du Dihya.“

Das sagt Siegried zu Patience, ihrer einzigen Verbündete im Kampf gegen die Engagierten. Die Dissidentinnen haben weiter nichts zu besprechen auf ihrer Geheimkonferenz im toten Trakt der Internatshölle.

Ich (die Allwissende) möchte Ihre Aufmerksamkeit auf das Vertrauen lenken, dass Siegried Patience schenkt. Wäre ich ihre Ausbilderin, ich würde die Saumseligkeit kritisieren.

Die Mädchen stehen in einer Fundamentalopposition zu den Terrorapologetinnen Doris und Diana, die ihre Opfer mitunter im Tattersaal* an einer Lounge laufen lassen.

*An der Oxenstierna, so benannt nach ihrer Gründerin, einer schwedischen Ritterin aus Småland, heißt das Atelier de Ballet von jeher Tattersall. Vielleicht wissen Sie, dass man so traditionell ein Unternehmen zum Kauf und Verkauf von Pferden bezeichnet. Die Bedeutungsspitze verdient es, mitgedacht zu werden; denn, ganz so wehrlos, wie sich die Schulleitung geriert, ist das dreiköpfige, von Trixi Västervik überragte Direktorium nicht. Trixi kennt die Mütter der Vandalinnen seit der gemeinsamen Kindergartenzeit. In dieser Perspektive erscheinen Doris, Diana und ihre gesellschaftlich satisfaktionsfähigen Komplizinnen nicht bloß als hemmungslose Sadistinnen, die sich unter dem schwarzen Stern der Anarchie berufen fühlen, Terror zu verbreiten. Vielmehr verbinden sich mit den raubeinigen Elevinnen Hoffnungen der Eltern und Lehrerinnen, die jede Opposition gegen die Gemeinen in den Untergrund verbannt.

*

Später am Tag beobachtet Doris die Geächtete. Gerade verkrümelt sich Siegried mit einem Buch; so easy, als sei sie frei. Eine Gemeinheit liegt der Terrorprinzessin auf der Zunge und bleibt da liegen. Siegried zählt zu den Geschorenen. Sie erhielt die Strafe für einen Verstoß gegen die von Doris an erster Stelle überwachte kulturrevolutionäre Schulordnung. Seither zeigt sich die Delinquentin kahl und legt so ein Verhalten ohne Beispiel an den Tag. Niemand kann sie aus ihrer Paria-Isolation befreien, solange sie nicht dem Pfad der annehmenden Unterwerfung folgt. Doris erwartet Geschenke und Schmeicheleien zumal von den hart Ermahnten. Von Siegried kam bisher nichts.

Doris ahnt eine abgedeckte Intransigenz, gegen die sie vorgehen will. Whatever it takes lautet ihre Devise. Doch fehlt im Augenblick der vertraute Impuls. Die Ermächtigung bleibt aus. Stattdessen fühlt sich Doris seltsam eingeengt. Ihr ist, als hielte sie ein magischer Bannkreis gefangen.

Davon kriegt Siegried nichts mit. Sie entgeht der Tyrannin im Schutz ihres Seelenfriedens. Diesmal erklärt sie den Dachstuhl zum Refugium. Sie stellt Wachen auf, die nur in ihrer Phantasie existieren. Keinen Schimmer hat sie von ihren realmächtigen Verbündeten. Aber sie sind da, entschlossen, Siegried auf das Paradeschild zu heben.

Emily Dickinson und der Wilde Westen

Sie liest:

„Goldene Strahlen fließen wie Honig zum Fenster herein. Das Nachmittagslicht ist so dicht, dass Emily sich fühlt wie eine in Bernstein eingeschlossene Biene.“

Die Rede ist von Emily Dickinson. Die Künstlerin als Kind schreibt in ihrem Zimmer, „einen Brief an jemanden, den es nicht gibt“. Sie erwägt die Materialisierungschancen von Imaginationen.

„Wenn sie gut genug schreibt, wird (der inexistente Adressat) schließlich auftauchen.“

Dann bekommt er sein Leben von Emily.

Dominique Fortier, „Städte aus Papier. Vom Leben der Emily Dickinson“, aus dem Französischen von Bettina Bach, Luchterhand, 20,-

In Emilys Wahrnehmung flattern die Wörter herum wie Schmetterlinge. Auf ihrem Weg zum Internat überquert die Debütantin Ozeane. Als Tochter und Enkelin gründerväterlicher Kolossalgestalten gesteht man ihr, an den Gepflogenheiten der Zeit vorbei, einen Bildungsanspruch zu. Zuerst besucht sie die erstaunlicherweise koedukative Amherst Academy, und dann, für die Dauer eines Jahres, das 1837 von Mary Lyon gegründete Mount Holyoke Female Seminary in South Hadley. Die Schornsteine der Anstalt ragen auf „wie Schlote eines (in der Prärie gestrandeten) Ozeandampfers“.

Siebzehn Kilometer (elf Meilen) liegen zwischen Amherst und South Hadley.

*

Dominique Fortier imaginiert eine Situation mit aufgerautem Pionierambiente, in der Emily, ihr Vater und die sagenhafte Mrs Lyon gezwungen werden, von ihren Oberschichtrollen Abstand zu nehmen. Die anglo-europäische Leitkultur verkümmert in der knapp bezwungenen Wildnis zu einer Accessoires-Lieferantin.

Emily Dickinson könnte auch der Name einer Revolverheldin sein. Die Schauplätze ihrer Kindheit und Jugend liegen im Wilden Westen.

Die Autorin schaltet sich autobiografisch ein. Den literarischen Anverwandlungen folgt eine realistische Darstellung durchschnittlicher Verhältnisse in der urbanen Gegenwart. Einen Umzug nach Boston erlebt sie als Entwurzelung. Nichts vermisst sie in der fremden Umgebung mehr als den Baum vor dem Fenster ihres Arbeitszimmers in Montreal. Die Überblendungen der beiden Lebensläufe erzeugen suggestive Nachbilder, eine halluzinierte Betrachtungsebene, auf der sich die Biografien, ihrer disparaten Ladungen zum Trotz, nahekommen.

Emily versichert sich mit „repetitiven Gesten“ der irdischen Haftung.

Jedes Ding, das die Elevin im Rahmen seiner Funktion einsetzt, „ist ein Anker, der sie am Boden hält“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden