Bürgerliche Zusatzangebote

Literatur Rachel Cusk, „Coventry“, Essays - Im obligatorischen Scheidungskrampf beansprucht die Autorin ihre Töchter ohne Wenn und Aber. Sie gehören zu ihr, vermutlich seit „der Apotheose der Geburt“.

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Peter Sloterdijk variiert ein Wort von Paul Cézanne: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler - Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.“ Sloterdijk addiert „verhangene Novembertage, Elefantenhäute, Mäusefelle, steife Packpapiere, fahle Cashmere-Eleganz“, melierte Public Convenience Floors und Goethes aschfahle Miene kurz vor seinem Tod.

Graue Ansichten

Sie besucht einen ehemaligen Liebhaber, der mit ihrer Nachfolgerin ein stabiles Paar bildet. Die Gastgeberin empfängt ihre Vorgängerin mit dramatischer Offenheit. Auf den Zinnen ihrer Souveränität gestattet sie sich eine Rückschau auf überstandene Eifersucht. In einer exorzierenden Praxis befreite sie sich einst von allen Stücken, die an die ältere Beziehung erinnerten. Der größte Aufwand verband sich mit der Entfernung eines Tisches, der sich auf keinem üblichen Weg wegschaffen ließ.

Rachel Cusk, „Coventry“, Essays, aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp, 21,-

Weit davon entfernt, düpiert zu sein, eher erleichtert, erwägt Rachel Cusk, wie das Ding zu ihrer Zeit ins Haus kam.

„Gekauft hatten wir die gigantische Kuriosität in einem Antiquitätengeschäft, wahrscheinlich in der Absicht, große Dinnerpartys zu feiern.“

Die Tischplatte war einmal die „Tür eines chinesischen Klosters gewesen“.

Die Gastgeberin führt aus, wie sie das Denkmal eines gescheiterten Versuchs abtransportieren ließ. Ihre Schilderung verrät eine Leidenschaft, die sie inzwischen vielleicht für kein Detail ihres Haushalts und der darin über die Bühne gehenden Beziehung übrighat.

Die Autorin steigt in den Familienbrunnen

In der elternhäuslichen Umgebung erlebt das Kind die Mutter als „oberflächlich“ und gravitationslos. Sie beobachtet eine am Telefon sich plappernd verleugnende „Hochstaplerin“. In der Gesellschaft befreundeter (gleichrangiger) Frauen entdeckt Rachel zum ersten Mal die aufschlussreichen Spielräume ihrer unmittelbaren Vorgängerin. Die Make-up-Maskenbälle bürgerlicher Draufgängerinnen identifiziert die Heranwachsende endlich als landnehmende Manöver.

Zwanzig Jahre später erkennt Cusk: „Ich war wie meine Mutter, nur andersherum.“

Im obligatorischen Scheidungskrampf beansprucht die Autorin ihre Töchter ohne Wenn und Aber. Sie gehören (zu) ihr, vermutlich seit „der Apotheose der Geburt“. Der Vater degradiert sich zum Bittsteller. Er macht sich lächerlich, indem er auf Diskurshöhe argumentiert. All das angelernte Teilhabe- und Aushandlungsvokabular erweist sich als substanzlos.

Cusks zweiter Ehemann präsentiert sich online so:

Warum kaufen Käufer?

“As one of the world’s leading Consumer and Shopper Behaviouralists, Siemon Scamell-Katz blends his vast expertise in consumer psychology, social anthropology, behavioural economics and neuromarketing to answer the question to which he has dedicated most of his career: Why do shoppers buy?” Quelle

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Cusk spricht von Voodoo, Primitivismus, natürlicher weiblicher Überlegenheit. Sie entwirft einen atavistischen Prospekt ganz so, als seien nur Frauen ursprüngliche Wesen, die unter Druck aus der bürgerlichen Schale platzen, während Männer unterhalb einer gewissen Kulturstufe aufgeschmissen sind.

Die Streitende erreicht den Punkt der männlichen Inferiorität in einem weiten Bogen, der ausgeht von Überlegungen zu Medea.

„Zurzeit bearbeite ich Euripides’ Medea für ein Londoner Theater. Der Regisseur und ich sind ständig verschiedener Meinung.“

Im Deutungsdiscounter treibt Medea als „Archetyp der schlechten Mutter“ auf. „Die mütterliche Ambivalenz … die gemischten Gefühle der Mutter“ verwandelt „kulturelle Hysterie … in etwas Grelles, Groteskes“.

Gemeinschaft der Löwinnen/Mythische Gang

Cusk bildet ein Team mit ihren Töchtern. Die Teenager erscheinen als Verkörperungen der Mutter als Jugendliche.

„Ich habe keine wirkmächtigeren Erinnerungen als die an meine Jugend. Das Ich von damals erscheint mir bis heute wirklicher als jedes andere, das ich bewohnt habe.“

Gemeinsam mit ihren Freundinnen erzeugen die Töchter ihre eigene Gesellschaft, eine Gemeinschaft von Löwinnen, eine mythische Gang, die von der Mutter versorgt wird. Cusk räumt hinter den Mädchen her. Sie garantiert die Versorgung, während der Nachwuchs feministische Strategien diskutiert und das Bad einsaut.

Cusk möchte ihre Töchter nicht so abgespeist wissen, wie sie und ihre Schwester abgespeist wurden.

„Die Mutter gab den Töchtern nichts weiter mit als gepanschte männliche Werte.“

Sloterdijk spricht von „Wetterberichten der Seele“, in denen das Wort Grau „explizit gemacht wird“. Das illustriert Stimmungen, die Cusk am Rand der Generallinien sichert. Sie spürt „dunklen Regungen der Kreativität“ auf zivilisatorischen Vorhöfen nach.

Bürgerliche Zusatzangebote

Zu den Premiumsignalen der Nachkriegsmoderne gehörte der Zweitwagen, in dem der chauffierte Nachwuchs die Strecken zu den bürgerlichen Zusatzangeboten, unbedroht von den Fährnissen im öffentlichen Raum, bewältigte. Das Auto war eine stählerne Schutz- und Komfortkugel. Heute sieht man Männer und Frauen, die ihre Kinder im strömenden Regen auf Fahrrädern transportieren; oft in abenteuerlichen, uns Ältere an Seifenkisten erinnernde Konstruktionen, die wir eben nicht einer kreativen Regression oder wirtschaftlichen Not zurechnen, sondern einem vollständig ausgebildeten, von Klimagerechtigkeitsbegriffen ökologisierten Bewusstsein.

Auch Cusk vergrößerte die Versorgungslast unter den Vorzeichen des freiwilligen Verzichts. Cusk-Leser:innen erinnern sich. InÜber das Mutterwerdenplauderte die Autorin aus einem kosmischen Nähkästchen. Im Planetensturm der Mutterschaft stieß sie auf Herausforderungen in einem unerwarteten Kontinuum der Ungewissheit.

Als angehende Mutter wähnte sich Cusk auf dem breitesten Boulevard der Welt, bevor sie erkannte, dass die von ihren Vorgängerinnen ausgetretenen Strecken keinesfalls barrierefrei sind.

„In der Schwangerschaft geben das Leben des Körpers und das des Geistes ihre Anstrengung der Getrenntheit auf und verflechten sich auf fatale und bleibende Weise.“

„Jetzt, da meine Kinder erwachsen sind, fahre ich wieder Auto, als zählte mein Beispiel nicht mehr.“

Kadaver auf dem Asphalt

Cusk lebt auf dem Land in einer autofahrenden Gesellschaft. Verkehrsaufhaltendes Fahrverhalten gehört zum Provinzkomment. Lokale Debatten drehen sich um Tempodrosselungen. Kadaver auf dem Asphalt zeigen Anpassungsdefizite an.

Mobile Nachbarschaften, Durchfahrende und Touristinnen erzeugen mit ihren Fahrzeugen Stau- und Zähflüssigkeitsgemeinschaften. Man demobilisiert sich „ohne sinnstiftendes Narrativ“. Cusk spricht von einem Zustand, der sich von „gegenseitiger Gefangennahme kaum noch unterscheiden (lässt)“.

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Unter der Zivilisationskritik zeichnet sich eine Seebadidylle ab. Die Autorin streicht Prisen eines gemächlichen Lebenswandels ein. Sie beobachtet „Urlauber einer bestimmten Altersgruppe … die im örtlichen Pub … schweigend vor riesigen Tellern Fish and Chips sitzen“.

Sie beschreibt ein Genre. Schweigende Paare tragen genauso zum Lokalkolorit bei wie die Robbenkolonie auf einer Sandbank vor dem Strand. Familien präsentieren sich wie archaische Stammesverbände. Sie lassen sich nicht einfach einschränken und zur Ordnung rufen. Den Übermachtkonstellationen wohnt ein Zauber inne.

Cusk stellt die Befürchtung in den Raum, man könne aus seinem „Familienleben erwachen wie aus einem Trinkgelage“. Plötzlich ist man allein (in seiner Ehe). Die Kinder sind flügge. Der Brutpflege-Komplize setzt sich hölzern ab; von der Evolution eingestellt wie ein Wecker, fügt er sich semi-solistisch in den Rahmen der nächsten Phase.

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Der Titelessay handelt von einer Gewohnheit der Eltern, die erzählende Tochter mit Schweigen zu strafen. Die unausgesprochene, mitunter unbemerkte Sanktion nennt man „Coventry“. Die Autorin schafft dem Wort eine Umgebung im Spektrum der unerwarteten Zerstörung, die dem Namen der Stadt eine metaphorische Bedeutung gab.

„Am 14. November 1940 um 19.40 Uhr begann der Angriff der deutschen Luftwaffe auf die britische Stadt Coventry … Die St. Michael‘s Cathedrale wurde völlig zerstört.“Quelle

Cusk beschließt, in (dem von den Eltern verhängten) Coventry zu bleiben. Vielleicht entdeckt sie eine Art von Fürsorge in dem Ausschluss. Jedenfalls veranlasst sich kein Trotz zu der Stagnation. Sie zieht ihre Lebensbahnen durch vermeidliches Ödland. In Wahrheit ist es das Paradies.

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Jemand sieht das Ende der aktuellen Weltordnung gekommen. Die Menschheit im Mahlstrom der Verwerfungen … Cusk erwähntStanley Spencerund Philoktet. Mich erinnert das an einen Dreh von Heiner Müller. Er präsentiert Philoktet als einsamen Trotzki. Darauf käme heute auch keiner mehr. Cusk und Müller in der Barke des Odysseus. Odysseus ist „der Funktionär, der Philoktet auf seine Funktion reduziert und ihn deshalb nicht gewinnt“ (Kristin Schulz). Müllers Hauptinteresse gilt Odysseus, der in Lesarten des Kalten Krieges „als stalinistischer Korporal“ erscheint.

Müller sucht immer wieder Anschluss an diese Erfahrung. Er bemüht Büchner, bei dem er „zum ersten Mal die Krise des Dialogs“ als Thema entdeckte.

„Jeder Fortschritt erledigt einen Fortschritt“, sagt Müller.

Neoptolemos lügt mit einer wahren Geschichte

Odysseus benutzt Neoptolemos, um Philoktet einzuseifen und aufzuweichen. Neoptolemos lügt mit einer wahren Geschichte und den besten Absichten, Philoktet zu entwaffnen. Dem geächteten Scharfschützen kann man schmeicheln. Man stellt ihm ein günstiges Andenken in Aussicht. Die Nachwelt soll den Aussätzigen achten.

Eine Schlange beißt Philoktet, die Wunde eitert. Der Eiter stinkt zum Himmel. Kollegen von der hellenischen Heeresleitung, man ist auf dem Weg nach Troja, reagieren auf verbreiteten Unmut, indem sie dafür sorgen, dass ihr Meisterschütze auf Lemnos (nach einer Odysseus-Order) ausgesetzt wird. Auf Lemnos ist nichts los, behauptet Sophokles.

„Entdecken Sie Lemnos: in der nördlichen Ägäis liegt eine Insel die ideal für Ihren Urlaub in Griechenland ist: Sehenswürdigkeiten und wunderschöne Strände.“Quelle

Der unfehlbare Philoktet holt die Inselgeier auf den Boden der Tatsachen, die sich nach Brecht in der Frage erschöpfen: „Wer frisst wen?“

„Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war/Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr.“ Heiner Müller

Die Aasfresser ernähren Philoktet, er verwandelt sich in der Abwesenheit von Zivilisation. Die Robinsonade ohne Schiffbruch zieht sich zehn Jahre hin, dann landet eine Delegation mit Odysseus an der Spitze auf Lemnos, um Philoktet zu reaktivieren. Der offizielle Sinneswandel hängt mit einem Orakel zusammen. Das Orakel macht Politik, wenn es behauptet, nur Philoktet und sein von Herakles übernommener Wunderbogen könne die Eroberung Trojas bringen.

Philoktet ist sauer, er will mit der griechischen Gesandtschaft nichts zu tun haben. Das kann man verstehen. An seiner Stelle hätte manche(r) den intriganten Marinekapitän Odysseus und diesen außerdem angeschwemmten Neoptolemos (Sohn des Achill) gewiss gleich umgelegt. Aber das ist Sophokles ein zu kurzer Prozess.

Odysseus benutzt Neoptolemos, um Philoktet einzuseifen und aufzuweichen. Neoptolemos lügt mit einer wahren Geschichte und den besten Absichten, Philoktet zu entwaffnen. Dem Scharfschützen kann man schmeicheln. Man stellt ihm ein günstiges Andenken in Aussicht. Die Nachwelt soll den Aussätzigen achten.

DDR-Coventry

Müller schreibt 1950 ein ansatzweise heroisches „Philoktet“-Gedicht. Die Dramatisierung des Stoffs fällt in die Zeit seiner eigenen Ächtung. Er ist der Ausgeschlossene, veröffentlichen kann er nur unter Pseudonym.

„Die Erfahrungen, die gerade hinter mir lagen, (Ausschluss aus dem Schriftstellerverband 1961) haben mir den Stoff ganz anders aktuell gemacht.“

Gleichzeitig gilt sein Hauptinteresse Odysseus, der in Lesarten des Kalten Krieges „als stalinistischer Korporal“ verstanden wird. Solche Deutungen verfehlen nach Müller das Wesentliche. Für ihn ist Odysseus die tragische Figur.

In „Drei Punkte zu „Philoktet“ stellt er fest: „Die Handlung ist Modell nicht Historie. Sie bietet Gelegenheiten, Haltungen zu zeigen, nicht Bedeutungen. Für Müller sind „Philoktet, Odysseus und Neoptolemos Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauung“.

Lemnos als Anstalt. Darin hat sich Philoktet mit seinem Hass auf Odysseus & Co. zur Ruhe gesetzt. So lange hat ihn sein Hass gekühlt, jetzt erhitzt ihn die tödliche Aufrichtigkeit des Neoptolemos. Das ist schon infam.

Philoktets Mobilisierung gelingt.

„Was wir hier zeigen, hat keine Moral/Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen.“

Odysseus führt Philoktet weiter hinters Licht. Der Gefoppte stampft auf im Trotz. Er brüllt wie auf einem attischen Markt.

„Die Aushöhlung der Werte drückt sich im Pomp der Fassade aus ... der Humanismus trägt Uniform ... Der Verschleiß der Rüstungen im Dienst ... soll den Glanz der Sprache durchsichtig machen als Instrument von Herrschaft.“

Stets geht es um den Bogen, mit dem Philoktet unfehlbar ist. In der Wahrheit des Mythos kämpft Philoktet wieder und weiter und folgt so einer göttlichen Anweisung. Müller schickt die Götter der Griechen aber in den Ruhestand. Die Vorsehung hat Feierabend.

Aus der Ankündigung

Was passiert mit uns, wenn unsere eigenen Eltern plötzlich aufhören, mit uns zu reden? Warum scheint sich Grobschlächtigkeit weltweit öffentlich durchzusetzen? Kann man ein Haus bauen, ohne den Verstand zu verlieren? Warum regredieren wir beim Autofahren so spektakulär? (Sollten unsere SUVs die Airbags nicht besseraußenhaben?) Und wie kann es gelingen, gleichzeitig Mutter, Tochter, Ehefrau, Staatsbürgerin, Künstlerin undbreadwinnerfür die ganze Familie zu sein? (Achtung, Spoiler: schwierig!)

Rachel Cusk ist eine unerbittlich humorvolle Selbsterforscherin und eine Poetin der gespaltenen Gefühle.Coventryversammelt eine Reihe ihrer glänzenden Essays, hochaufgelöste, tiefenscharfe Meisterstücke. Sie zu lesen bedeutet, sich den weitreichenden Ungewissheiten zu stellen, die wir alltags lieber nicht beachten.

Zur Autorin

Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, hat die international gefeierteOutline-Trilogie, die MemoirsLebenswerkundDanachsowie zahlreiche weitere Romane und Sachbücher geschrieben.Der andere Ort, ihr zuletzt erschienener Roman, stand auf der Longlist des Booker Prize. Sie ist Guggenheim-Stipendiatin und lebt in Paris.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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