Cape Cod Capriccio

Literatur Miranda Cowley Heller - „Der Papierpalast“ - Der einst im Zuge einer väterlichen Pleite vom gesellschaftlichen Hochplateau der Ostküste gestürzten Nanette fehlte die Geduld, den unternehmerischen Erfolg des Gatten abzuwarten

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Die schöne und nobel geborene, doch im Verlauf ihrer Kindheit verarmte Nanette Saltonstall besaß die Caprice im ersten Durchgang einen wenig begüterten Bildhauer zu heiraten, der sich selbst als Großbürger mit einem ererbten Besitz auf Cape Cod (einer amerikanischen Terra do Bacalhau) erlebte. Amory Cushing verstieg sich zu der Idee, am Rand des Anwesens (beinah außer Sicht, wählt man denn die Herrenhausperspektive) Urlaubsbutzen für den Plebs zu errichten, um aus den Mieteinnahmen den Unterhalt für seine „elegante junge Frau“ und zwei Kinder zu bestreiten. Die Innenwände der „wasserdichten Salzschachteln“ verkleidete er mit Presspappe. Daher rührt das den Titel stiftende Wort vom „Papierpalast“.

„Dieses Haus, aus Papier gebaut, ist zu etwas Festem geworden, das der Zeit standhält. Dieses Haus, dieser Ort: alle meine Geheimnisse sind hier.“

Der einst im Zuge einer väterlichen Pleite vom gesellschaftlichen Hochplateau der Ostküste gestürzten Nanette fehlte die Geduld, den unternehmerischen Erfolg des Gatten abzuwarten. Sie ließ sich scheiden und bereiste mit ihren Kindern Wallace und Austin Europa. Als ihr das Geld ausging, kehrte sie mit ihrem Gefolge nach New York zurück und heiratete den perversen Bankier Jim. Einen erheblichen Teil der Zeche, die sich aus dem Anspruch ergab, ohne eigenes Vermögen in der Beletage zu residieren, bezahlte Wallace. Den Missbrauch lastete sie ihrer Mutter an.

Miranda Cowley Heller, „Der Papierpalast“, Roman, aus dem Englischen von Susanne Höbel, Ullstein, 23,99,-

In der nächsten Generation führt Wallaces Tochter Elle eine gute Ehe mit Peter. Der englische Journalist und Finanzexperte erscheint ihr so großartig wieAtticus Finch.Trotzdem durchschießt Elle „der Quecksilberpfeil des Verlangens“, sobald sie an Jonas denkt. Der mit Gina Verheiratete ist Elles bester Freund. Jahrelang bilden die Paare jeden Sommer eine bewährte Aktionsgemeinschaft im Zentrum des Angehörigenensembles. Eines Abends aber …

„Die Dinge kommen aus dem Nichts.“

Das ist wieder einmal ein nahezu klassischer erster Satz.

„Die Dinge kommen aus dem Nichts. Der Kopf ist leer. Dann, in einem Rahmen, eine Birne. Glatt, grün, ein gebogener Stiel, ein einzelnes Blatt.“

Man versteht sofort den Vorgang als Abwehr einer Überforderung. Widersprüchliche Impulse lösen einen Systemabsturz aus. Der Apperzeptionsapparat versagt. Die Verarbeitung Existenz gefährdender Informationen endet temporär. Erlösung resultiert aus einer Art Schubumkehr. Elle, sonst sich selbst in einer tragenden Rolle … „meine schweren Brüste … meine langen Haare“ … überaus bewusst, sucht Zuflucht im idyllischen Detail. Sie addiert die Elemente eines Feriensommerabends im erweiterten Familienkreis auf Cape Cod.

„Dann war der Augenblick da“

Eleanor ‚Elle‘ Bishop „stopfte (ihren) Slip“ wahlweise „eine Handvoll schwarzer Spitze … hinter den Brotkasten“ und ging gewissermaßen an Peter und den Kindern vorbei „hinaus in die Nacht“. Sie hoffte und ersehnte wie ein Teenager.

*

„Nach all den Jahren, in denen ich mir das ausgemalt hatte und nie sicher sein konnte, ob er mich noch wollte. Dann war der Augenblick da und ich wusste, jetzt passiert es: der viele Wein, Jonas’ Stimme, als er das Gedicht las, Peter, mein Mann, im Grappadunst, ausgestreckt auf dem Sofa, unsere drei Kinder schlafend in ihrer Hütte, meine Mutter mit gelben Gummihandschuhen am Spülbecken beim Abwasch, die sich nicht um ihre Gäste kümmerte. Unsere Blicke versenkten sich eine Sekunde zu lang ineinander.“

*

So beginnt ein Bloomsday-Roman, insofern der „Der Papierpalast“ an einem Tag spielt. Ein goldener Morgen empfängt die Heldin in Back Woods im Dukes County, Massachusetts.

“Between the Congregational church and town hall to the rural backwoods... Earlier, it was the home of the Dukes County Academy, which operated from ...” Quelle

Elle steigt - in einer Botticelli-Szene - in einen See, der weit genug weg von der brüllenden Brandung im Atlantik mündet, um „die Luft (an einem Privatufer) süß und still“ zu finden.

Der Frieden endet mit dem Auftritt von Elles drakonischer Mutter. Wallace rauscht ihrer Tochter so imposant wie eine „Galionsfigur am Bug eines (neuenglischen) Schoners“ entgegen.

Rückblenden wie Haifischflossenhecklichter

Im nächsten Erzählmoment liegt Elle 1966 auf einem Operationstisch in New York. Sie ist drei Monate alt. Aus Versehen durchtrennt der Arzt einen Eileiter des Babys.

Miranda C. Heller rollt Elles Kindheit und Jugend auf. Die Eltern lassen sich 1969 scheiden. Es gibt eine Gegnerin, die zwei Jahre ältere Schwester Anna. Die Mädchen erleiden sich als Verdrängerinnen. Der Vater nimmt, was er kriegt. Er saugt die Liebe seiner Töchter auf, die dann mit der Mutter in ein anderes Leben aufbrechen. Darin tauchen Kellerasseln in Küchen von Nachbarn auf, die Anspruch auf Wallace erheben.

Mit Aufnahmen, die an überbelichtete Polaroids denken lassen, dokumentiert die Erzählerin den Initiationsreigen lupenreiner WASP-Elevinnen. Sie erinnert Cocktailpartys in ländlichen Massachusetts-Refugien der weißen Mittelschicht mit lauter gelungenen Verkörperungen von Gesundheit und Gelassenheit.

„Barfüßige Frauen in Strandkleidern, gutaussehende Männer in … Segelhosen, Gin Tonics, Cracker, Cheddar … auf den Sandpisten … (tanzen) Schattenflecken, wo die Sonne durch Zwergkiefern und Schierling (scheint)“.

Der Nachwuchs tobt ungebremst durch die Gegend. Elle badet in denTodeisseenauf Cape Cod. Das sind - von Kindern als „Teiche“ wahrgenommene - Restposten eines vor zwanzigtausend Jahren geschmolzenen Gletschers. Die unbedingte Freiheit geht in einem Meer von Vorschriften unter, die das Inseldasein ab jener Ära reglementieren, in der Elles Kohorte, noch halbwegs jugendlich, ins Elternfach wechselt.

Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Entdecken Sie den literarischen Familienroman, der amerikanische Leser und Kritiker begeisterte.

Es ist früh am Morgen, alle schlafen noch, als Elle Bishop an einem perfekten Augusttag zum See läuft. Im Sommerhaus der Familie ist etwas passiert: Während Elles Ehemann am vorherigen Abend mit den Gästen lachte, haben Elle und ihre Jugendliebe Jonas sich geliebt. Elle taucht ein ins Wasser, sie weiß, an diesem Tag läuft alles auf eine Entscheidung hinaus.

Ein großer Roman über die Sommer unseres Lebens — und darüber, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein.

»Betörend, scharfsinnig, außergewöhnlich. Ein ganz großes Lesevergnügen.« William Boyd

»Ein großartiger Pageturner.« Cynthia D‘Aprix Sweeney

»Glitzernde Wellen über einer dunklen Unterströmung. Man kann nicht aufhören, und wenn man durchgeschwommen ist, möchte man sofort umkehren.« Jackie Thomae

»Sommerlicher Suchtstoff, ergreifend, witzig, tragisch und sehr gut übersetzt – bloß die Männer sind ein bisschen zu perfekt, aber sei's drum.« Eva Menasse

»Der Roman nimmt uns mit in eine lebendige Landschaft, in eine Familie, zu einer langjährigen heimlichen Liebe. Ganz unmittelbar erzählt, fesselnd vom Anfang bis zum Ende.« Meg Wolitzer

Zur Autorin

Miranda Cowley Heller war Senior Vice President und Head of Drama Series bei HBO. Sie hat Serien entwickelt und verantwortet, u.a. Die Sopranos, Six Feet Under, The Wire, Deadwood, Big Love. Als Heranwachsende hat sie jeden Sommer auf Cape Cod verbracht, inzwischen lebt sie in Kalifornien.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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