Gewollter Sturzflug

Literatur Maggie Shipstead, „Kreiseziehen“ - Der Titel könnte auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke anspielen. Die Autorin zitiert es als Motto: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise jahrtausendelang; / und ich weiß noch ...“

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„Was ich getan habe, ist töricht, aber mir blieb keine Wahl.“ Marian Graves

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„Fliegen ist notwendig. Leben nicht.“ Melli Beese

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„Manche Vögel fliegen, bis sie sterben.“ Maggie Shipstead

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„Wenn Sie weit genug in eine Richtung gehen, landen Sie am Meer.“ Addison Graves

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“Mrs. Lloyd Feiffer, Matilda, wife of the ship’s new American owner, stood on a platform edged with blue-and-white bunting, a bottle of Scotch tucked under her arm.

‘Shouldn't it be champagne?’ she had asked her husband.

‘Not in Glasgow,’ he’d said.”

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Der Titel könnte auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke anspielen. Die Autorin zitiert es als Motto.

„Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise jahrtausendelang; / und ich weiß noch nicht …“

Die Erzählerin weiß schon: „Mein letzter Anflug wird kein hilfloser Taumel sein, sondern der scharfe Tauchgang eines Tölpels - ein gewollter Sturzflug, der auf etwas tief im Meer abzielt.“

Maggie Shipstead, „Kreiseziehen“, Roman, aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz, dtv, 28,-

Biografische Parallelen

Hadley Baxter zieht Parallelen zwischen ihrem Hollywood-Leben und dem Leben der fiktiven Luftfahrtpionierin Marian Graves. Marian und ihr Zwillingsbruder Jamie wuchsen bei einem Onkel auf. Der ausgemachte Junggeselle Wallace übernahm die Nichte und den Neffen nach der Verhaftung seines Bruders. Die Mutter der Mündel war bei dem Untergang eines Ozeanriesen ertrunken. Hadleys Eltern kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. In der Romangegenwart memoriert die Waise eine Kindheit und Jugend bei Onkel Mitch.

Fliegende Vorreiterinnen - Im Präsens der Kindheit

Maggie Shipstead nimmt Maß an Avantgarde-Persönlichkeiten wie Hélène Dutrieu, Melli Beese, Amy Johnson, Harriet Quimby, Amelia Earhart und Margot Duhalde Sotomayor. Die Epigonin Hadley studiert Marians Autobiografie „wie ein Astrologe eine Sternenkarte“. Sie hegt die Hoffnung, einen Fahr- oder eher noch Flugplan für ihr eigenes Leben zu finden. Ihre Einsamkeit soll sich in der imaginierten Obhut des Idols zu einem Abenteuer wandeln. Dabei ist Hadleys Alltag kaum alltäglich. Mitch arbeitet sich als Regisseur in der Filmbranche vor. Die Nichte kommt erst einmal in Spots zum Einsatz. Ihre Rollen werden größer. Die Heranwachsende verdient mit dem alten Hasen um die Wette so viel Geld, dass sie es gemeinsam schaffen, aus dem Valley von Los Angeles herauszukommen und aufzusteigen in die Beverly-Hills-Liga. Mitch feiert sich zu Tode. Er stirbt an einer Überdosis. Hadley erweitert ihren Horizont und landet dann doch wieder bei der Schauspielerei. 2014 übernimmt sie die Hauptrolle in einem Film über Marian, die 1950 bei einem Weltumrundungsversuch mit ihrem Flugzeug vom Radar verschwand - und zwar irgendwo über dem Ross-Schelfeis in der Antarktis.

Narrative Zangenbewegung

Shipstead nähert sich Marians Leben in einer narrativen Zangenbewegung. Sie schildert Hadleys Projektionen auf die Heldin und erweitert den Blick mit einem biografischen Abriss.

Shipstead beginnt mit einer unterkühlten Eheschließung. Keine Liebesheirat, sondern eine Zweckgemeinschaft verbindet sich mit dem Ereignis, das Terri Stuhltrager Matilda zu einer leisen Leidtragenden macht. Ihr Mann, der deutschstämmige Reeder Lloyd Feiffer, tauft das Firmenflaggschiff auf den Namen seiner Geliebten. Addison Graves kommandiert die Josephina Eterna. Er verdankt Lloyd seine Karriere. Der Bauernsohn aus Illinois liebt die „maskuline Stille der Brücke“. Er meidet die Aufmerksamkeitsräuberinnen und -räuber in den Speise-Ballsälen des ihm unterstellten Ozeanriesens.

Eines Abends begegnet Addison der Amerikanerin Annabel, die bald schon in der Kapitänskajüte auf der Matte steht.

„Ihre Haut war bläulich und sehr kalt, und in den ersten Minuten konnte (Addison) … es kaum ertragen, ihre Eiseskälte zu berühren.“

Erziehung zum Selbstekel

Widerwillig kommt Annabel mit Zwillingen nieder. Die eigene Kindheit kommt ihr hoch. Sie erinnert Prozeduren mit Borax; vom Arzt gegen Masturbation verschriebene Kaltbäder; eine wüste und öde Erziehung zum Selbstekel.

Man bezichtigte das Mädchen eines Verbrechens. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Ihr Vater legte sich zu ihr, nachdem die Mutter ihr die Hände gebunden hatte, um sie an der Selbstbefriedigung zu hindern.*

Sukzessive geriet Annabel auf den tristen Parcours einer Stigmatisierten. Der „vom Verlangen Besessenen“ fehlte jede Aussicht auf einen Gemahl aus ihren Kreisen. Annabels Vater reiste mit ihr nach Europa.

In einem Handlungsaugenblick sind die beiden auf der Heimfahrt. Gerade hat sich Annabel zu Addison gelegt, durchdrungen von der Gewissheit, ihr „verdorbener Schoss“ sei unfruchtbar. Nach dem Akt kehrt sie in ihre Kabine zurück.

*Der Vater erwartet die Tochter. So forciert resigniert wie lächerlich indigniert fragt er:

“What should I have done differently for you?”

“You should have let me sleep.”

Die Diskretion, mit der Annabel den Missbrauch anspricht, löst Schockwellen aus.

Suizidale Lethargie

“How strange it was that a dream, once realized, could quickly turn mundane.”

Die Zwillinge widerlegen Annabels Unfruchtbarkeitsvermutung. Die Wöchnerin reagiert missmutig auf den Nachwuchs. Sie engagiert Ammen, gegen den Rat ihres Arztes, der die Milchgeberinnen für zweifelhafte Personen hält.

Annabels suizidale Lethargie ist Addison ein Dorn im Auge. Er zwingt sie, ihn, gemeinsam mit den Kindern, aber ohne Kindermädchen, nach Europa zu begleiten. Die Josephina Eterna sinkt nach einer Explosion. Annabel stirbt, Addison rettet seine Zwillinge und folglich sich selbst notgedrungen. Dafür bestraft man den vermeintlich eigensüchtigen Kapitän mit neun Jahren Gefängnis.

Marian und Jamie genießen eine ungezwungene Verwandtengemeinschaft im Missoula County von Montana. Für sie gelten die bürgerlichen Spielregeln nicht. In ihrem Elysium verfallen alle dem Charme einer verspielten Daseinsweise. Marian interessiert sich sehr für Motoren.

Aus der Ankündigung

Marian Graves ist ein Wildfang von Kindesbeinen an. Im heimatlichen Montana sucht sie stets das nächste Abenteuer und scheut keine Gefahr. Besonders angetan hat es ihr das Fliegen – sie träumt davon, über den Wolken zu schweben. Aber um ihr Ziel zu erreichen, muss sie Hindernisse meistern und Opfer bringen. 1950 startet Marian den Versuch, als erste Person die Erde in der Längsachse zu umrunden. Doch in der Antarktis verschwindet sie und lässt nur ein Logbuch zurück.

2014 verkörpert die skandalerschütterte Hollywoodschauspielerin Hadley Baxter die Rolle der zum Mythos gewordenen Marian Graves und begibt sich auf die ganz eigene Spurensuche dieser ungewöhnlichen Frau.

Zur Autorin

Maggie Shipstead wurde 1983 in Kalifornien geboren und studierte Amerikanische Literatur in Harvard. Anschließend besuchte sie den berühmten Iowa Writers’ Workshop, wo Zadie Smith sie unterrichtete. Für ihr Debüt ›Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit‹ erhielt sie den Dylan Thomas Prize. ›Kreiseziehen‹ ist ihr dritter Roman, stand auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und ist für den Women’s Prize for Fiction 2022 nominiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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