Paternalistische Fürsorge

Literatur Judith W. Taschler, „Über Carl reden wir morgen“ - Im Frühjahr 1828 heuert Rosa Brugger als Dienstmädchen in einem Palais im zweiten Wiener Bezirk an. Die bis eben nur mit dem Allerdürftigsten vertraute Tochter eines Müllers wähnt sich ...

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Im Frühjahr 1828 heuert Rosa Brugger als Dienstmädchen in einem Palais im zweiten Wiener Bezirk an. Die bis eben nur mit dem Allerdürftigsten vertraute Tochter eines Müllers wähnt sich in einem Kaiserschmarrn-Tadsch Mahal, während der Hausherr gerade das Notwendigste von den örtlichen Verhältnissen gewährleistet findet.

Ein Personalstab von sechsunddreißig Personen dient der sechsköpfigen Familie um den alten Reischach. Sein Vorbild in der Wirklichkeit könnte Feldmarschall Lieutenant Judas Thaddäus Freiherr von Reischach (1776 - 1839) gewesen sein. Er entstammte einem schwäbischen, seit dem 12. Jahrhundert nachgewiesenen, europaweit in Condottiere-Stiefeln aktiven Geschlecht. Sein Sohn Sigmund (1809 - 1878), seines Zeichens kaiserlicher und königlicher Kämmerer, Geheimer Rat, Feldzeugmeister, Ritter des Militär-Maria-Theresien-Ordens, Inhaber des k. k. Linien Infanterie Regiments No. 21 sowie Gesandter des Maltesterordens, zeichnete sich als Regimentskommandeur 1848 bei Straßenkämpfen in Mailand aus.

„Seine Waffenthat in der Schlacht von S. Lucia wurde durch jene bei Montanara am 29. Mai übertroffen, wo er sich an der Spitze von Sturmcolonnen seines Regiments mit dem Säbel in der Faust glänzende Lorbeeren erfocht.“ Quelle

Judith W. Taschler, „Über Carl reden wir morgen“, Roman, Paul Zsolnay Verlag, 24,-

Spielzeug mit Leib und Seele-Wie sich die landfeine Rosa einer Stadtintrige in die Arme wirft

Im Roman ist der Spross ein schwachbrüstiger Zeitgenosse, dem die Eltern hinterlistig unter die Arme greifen. Um seine Zeugungskraft zu erproben und ihn von Bordelleskapaden abzuhalten, holen sie sich die schöne Rosa ins Haus.

In der Gegenwart von Rosas Palaisperlendebüt überschlagen sich die Ereignisse in Zeitlupe. Zwei Jahre nach ihrem Eintritt in den freiherrlichen Haushalt wird sie schwanger. Reischach arrangiert eine heimliche Niederkunft in ländlicher Umgebung. Seine Zuneigung verflüchtigt sich bis zu einem Sockel paternalistisch-funktionaler Fürsorge.

Rosa hofft auf einen Gnadenakt des Hochgeborenen; auf eine klandestine Garantieformel und heimliche Aufwertung ihrer unziemlichen Verhältnisse. Sie unterschätzt das Ausmaß jener Infamie, der sie sich einst freudig ausgeliefert hatte.

Rosa verliert ihren Sohn an die Revolution von 1848. Als Barrikadenkämpfer vorgeprescht, endet Theo trostlos in den Reihen der Füsilierten und amtlich Verscharrten. Die gekränkte Monarchie verweigert ein Andenken. Damnatio memoriae.

Rosa landet als billige Arbeitskraft im elterlichen, vom verwitweten Bruder Anton geführten Mühlenbetrieb. Fortan wirkt sie als gute Seele. Sie zieht ihre Nichten und den Neffen Albert auf. Für den Nachwuchs bricht das 20. Jahrhundert im Glanz der Gründerzeit an. In der nächsten Generation expandiert die Mühle imMühlviertel. Alberts Zwillingssöhne Carl und Eugen teilen sich die Aussicht auf ein stattliches Erbe. Es gibt die Mühle, ein Sägewerk und ein Handelsgeschäft. Doch Eugen entzieht sich dem gediegenen Wohlstand nach Amerika. In einem von Benediktinerinnen geführten Waisenhaus in St. Louis spielt er den Hausmeister. In Cincinnati arbeitet er als Kellner und in der Gegend von Boston als Holzfäller.

Sein Bruder gerät wehrpflichtig zwischen die Mühlsteine des Ersten Weltkriegs. Er versehrt einen Vorgesetzten und desertiert so geschickt, dass es zunächst scheint, er sei bei einem Lazarettbrand ums Leben gekommen. Man kommt ihm auf die Schliche.

Ich bin versucht, noch mehr (nach) zu erzählen, so rauschhaft spannend ist der Roman.

Aus der Ankündigung

„Judith W. Taschler versteht es, den Leser zu fesseln.“ (Sebastian Fasthuber, Falter) – Nach „Die Deutschlehrerin“ ihr neuer großer Familienroman über drei Generationen

Fast hat man sich in der Hofmühle damit abgefunden, dass Carl im Krieg gefallen ist, als er im Winter 1918 plötzlich vor der Tür steht. Selbst sein Zwillingsbruder Eugen hätte ihn fast nicht erkannt. Eugen ist nur zu Besuch, er hat in Amerika sein Glück gesucht und vielleicht sogar gefunden. Wird er es mit Carl teilen? Lässt sich Glück überhaupt teilen? Judith W. Taschler hat einen großen Familienroman geschrieben. Über drei Generationen verfolgen wir gebannt das Schicksal der Familie Brugger, deren Leben in der Mühle vor allem die Frauen prägen. Das einfühlsame Porträt eines Dorfes, ein Buch über Abschiede und die Liebe unter schwierigen Vorzeichen, über den Krieg und die unstillbare Sehnsucht nach vergangenem Glück.

Zur Autorin

Judith W. Taschler, geboren 1970 in Linz, wuchs mit sechs Geschwistern, vielen Tieren und Büchern in einem großen, gelben Haus im Mühlviertel auf. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte unterrichtete sie einige Jahre lang. Sie lebt in Innsbruck. Für ihren Bestseller-Roman Die Deutschlehrerin erhielt sie 2014 den Friedrich-Glauser-Preis. Weitere Bücher u.a.: Sommer wie Winter (Roman, 2011), Apanies Perlen (Erzählband, 2014), Roman ohne U (2014), bleiben (Roman, 2016), David (Roman, 2017), Das Geburtstagsfest (Roman, 2019).

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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