Verpasste Liebesideallinie

Literatur Julia Holbe, „Boy meets Girl“ - Zwar ist sie Paartherapeutin, aber im Augenblick des Geschehens im „Labyrinth … (des) eigenen Lebens“ so gefangen wie viele, die sich vertrauensvoll an die Beziehungsspezialistin und Ratgeberautorin wenden

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„Sie gab ketzerische Äußerungen über Ehe und Mutterschaft von sich, denen der Schießpulvergeruch persönlicher Einsichten anhaftete.“ Rachel Cusk

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Seelische Staubecken

Zwar ist sie Paartherapeutin, aber im Augenblick des Geschehens im „Labyrinth … (des) eigenen Lebens“ so gefangen wie viele, die sich vertrauensvoll an die Beziehungsspezialistin und Ratgeberautorin wenden. In Noras Dasein gibt es keine seelischen Staubecken und lieblos vollgestellte Erinnerungsabstellkammern. Tadellos aufgeräumt ist die dingliche Sphäre. Von den Fußböden bis zur Bettwäsche beweist jedes Detail Geschmack und Zuversicht.

Sorgfältig arrangiert, sortiert und hochwertig sind die Gegenstände, die sich zu einem Interieurensemble fügen in Noras Schöner-Wohnen-Existenzialismus.

Julia Holbe, „Boy meets Girl“, Roman, Penguin Verlag, 20,-

Zur Perfektion gehört zunächst auch Paul, ein Medienmann mit großer Reichweite. Wegen ihm raucht Nora heimlich und vermeidet Safran im Abendessen. Von einem Ausflug in die weite Welt bringt Paul einen Beweis seiner Untreue mit.

„Ein schwarzer Damenschlüpfer, der nicht mir (gehört),“ gelangt unbeachtet aus dem Koffer in die Waschmaschine, um an der Leine erst erkannt zu werden. Nora kämpft mit sich auch auf einer sprachlichen Distinktionsebene. Sie fragt sich, welches Wort angemessen sei: „Schlüpfer, Unterhose, Höschen“. So oder so geht es um ein „hässliches (und) ausgeleiertes Ding“, offenbar aus einem „schlampigen“ Haushalt. Nora fühlt sich doppelt hintergangen und herabgesetzt. Pauls Seitensprungpartnerin unterschreitet den Mindeststandard, den das Ehepaar Nora & Paul auf der Strecke vom Wein über das Fernsehprogramm bis zu den Vorhängen für selbstverständlich erachtet.

Nora tröstet sich mit einem beinah noch jugendlichen Englischlehrer aus Neuseeland, der sich von ihr jedes Restaurantessen bezahlen lässt, im Weiteren aber angenehm unkompliziert die Liebhaberrolle interpretiert. Während Paul ein Ehe-Sabbatical einläutet, läuft sich ein Freund aus Studienzeiten warm für einen Liebesrausch auf der Höhe des Erfahrungshorizonts.

Gregory und Yann - Der Jüngere genießt die von den richtigen Entscheidungen definierte Grandseigneuresse. Der Ältere, ein Augenarzt by the way, skizziert formvollendet die verpasste Liebesideallinie. Yann erzeugt eine Stimmung vertrauter Melancholie. Nora kann mit ihm Pferde stehlen, ohne vom Sofa aufzustehen. Gemeinsam sehen sie Filme aus der Bogart-Ära.

Film noir und Mousse au chocolat blanc

Nora und Gregory: Das ist geschmeichelte Eigenliebe und ein bisschen mehr.

Nora und Yann: Das ist verdoppelte Grandezza und superber Genuss mit einem kaum merklich-schalen Nachgeschmack.

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Julia Holbes Heldin entwickelt eine konkrete Psychologie. Ich dachte bei manchen analytischen Punktlandungen an einen Dialog im „Schweigen der Lämmer“. Dr. Hannibal Lecter erklärt der FBI-Agentin Clarice Starling die Grundlagen investigativer Interventionen.

„Oberste Prinzipien Clarice. Simplifikation… lesen Sie bei Marc Aurel nach. Bei jedem einzelnen Ding die Frage, was ist es in sich selbst? Was ist seine Natur? Was tut er, dieser Mann, den Sie suchen?“

Starling: „Er begehrt.“

Lecter: „Wie beginnen wir zu begehren, Clarice? Suchen wir uns Dinge zum Begehren aus? Strengen Sie sich mit allen Kräften an, jetzt eine Antwort darauf zu finden.“

Starling: „Nein. Wir können...“

Lecter: „Wir beginnen das zu begehren, was wir jeden Tag sehen.“

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Gregory kreuzt Noras Wege. Er macht es ihr leicht. Er übt Zurückhaltung und stellt keine Forderungen. Kann man mit jemandem zusammenleben, der so wenig von einem will?

Nein.

Yann bewirtschaftet noch eine andere Quelle der erotischen Inspiration. Sophie, erfolgreich bis dorthinaus, bietet sich Nora als Gegenspielerin in einer Superfrauenkonkurrenz an. Gleichzeitig sagt Noras Mutter dem Sinn nach: Am Ende läuft es mit jedem auf das Gleiche hinaus. Der Alltag untergräbt die Liebe.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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