Metamorphosen des Antisemitismus

Antisemitismus Neuer Antisemitismus - Fortsetzung einer globalen Debatte

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In den Aufstiegsagenturen des 19. Jahrhunderts wurden Diskriminierungskonzepte obsolet, die lange aufhaltend gewirkt hatten. Ressentiments bedurften neuer toxischer Ladungen. Die „Entzauberung“ der Welt als Fortschrittsfolge formte auch den Antisemitismus um. Marx und Rothschild mussten auf einen Nenner gebracht werden. Zurückgegriffen wurde auf das Bild vom janusköpfigen Dämon. Der Mythen-Fledderei zur Seite stellte man „quasiwissenschaftliche“ Blut- und Rasse-Erklärungen. Gerd Koenen befasst sich damit in „Mythen des 19.,20. und 21. Jahrhunderts“. Der Aufsatz gehört zu der von Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider herausgegebenen Sammlung „Neuer Antisemitismus? - Fortsetzung einer globalen Debatte“.

„Neuer Antisemitismus? - Fortsetzung einer globalen Debatte“, Hrsg. Von Christian Heilbronn, Doron Rabinovici, Natan Sznaider, Suhrkamp, 490 Seiten, 20,-

Fortgesetzt wird der Debattenband „Neuer Antisemitismus - Eine globale Debatte“ aus dem Jahr 2004. Die alten Texte wurden überarbeitet. Neue sind dazugekommen. Man findet Beiträge von Omer Bartov, Ulrich Beck, Micha Brumlik, Ian Buruma, Judith Butler, Dan Diner, Daniel Jonah Goldhagen, Thomas Haury, Jeffrey Herf, Tony Judt, Gerd Koenen, Matthias Küntzel, Antony Lerman, Andrei Markovits, Michael Walzer, Robert Wistrich und Moshe Zimmermann.

Der Antisemitismus ist sich selbst genug

Der letzte Jahresbericht über Antisemitismus des israelischen Diasporaministeriums schildert weitere Metamorphosen. Die Zahl der Vorfälle steige über alte Rekordmarken. Dem islamistischen Antisemitismus den Rang abgelaufen habe rechtsextremer Antisemitismus in Nordamerika und Europa. Die Autor*innen der Studie erkennen Gründe im Globalismus, in einem polarisierten politischen Diskurs und in diversen Einwanderungskrisen. Liest man Koenen, findet man Phänomene und Motive der Gegenwart schon in der Gründerzeit. Stets bringt man Juden mit Expansionen in Verbindung, von denen man selbst ausgeschlossen oder (nach eigener Einschätzung) negativ betroffen ist. Manchmal dient Antisemitismus als sozialer Kitt und gestattet eine Verständigung unter potentiellen Gegnern. Zumal in der Spielart Israel-Hass ergeben sich furiose Allianzen. Die Feministin Tamika Mallory konferiert mit dem bekennenden Antisemiten Louis Farrakhan.

Der erste Band erschien im Verlauf der zweiten Intifada, deren Ende zum Zeitpunkt der Auslieferung nicht abzusehen war. Die Autor*innen erwarteten einen global angreifenden Antisemitismus. Der europäische Antisemitismus wurde als politischer Reflex begriffen und in einen Zusammenhang mit Entwicklungen im Nahen Osten gestellt; so als bräuchte er etwas anderes als sich selbst. Tony Judt sieht sogar das faschistische Gespenst im Braunhemd wiederauferstehen.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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