Moralisches Desaster

Ece Temelkuran/Volksbühne Gestern Abend stellte Ece Temelkuran im Gespräch mit Dilek Güngör ihr Buch „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur“ im Roten Salon

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ece Temelkuran im Gespräch mit Dilek Güngör

Eingebetteter Medieninhalt

Ein Fernsehteam läuft hinter ihr her. Die Belagerung nimmt Ece Temelkuran locker. Sie ist den großen Bahnhof gewöhnt. Sie besaß in der Türkei die strahlende Prominenz, die Autor*innen nur in einer wortgläubigen und buchverrückten Gesellschaft kriegen.

„We overloading the words.“

Türken vereinen sich nicht im Egal des westlichen Laissez-faire. Das öffentliche Leben zählt zu ihren Herzensangelegenheiten. Das gibt den Sprecher*innen der Lager Grandiosität.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt und erschien 2014 im Atlantik Verlag. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

Nach Kritik an einem Militärschlag lernte Temelkuran die Schmerzen der Diaspora kennen. Aus der europäischen Warte beobachtet sie, wie das türkische Staatsfundament erodiert. Im Roten Salon der Berliner Volksbühne bejubelte sie das Ergebnis der Kommunalwahlen in den einundachtzig Provinzen.

Sie zählte die von „Erdoğan abgefallenen“ Städte auf. Zumal das Istanbuler Resultat gleicht einem schweren Keulenhieb. Wer Istanbul regiert, dominiert die türkische Politik.

Temelkuran machte es Dilek Güngör leicht im Gespräch zu bleiben. Allerdings verweigerte sie einen Vortrag aus dem neuen Buch.

Ece Temelkuran, „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“, aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Hoffmann und Campe, 272 Seiten, 22,-

Irene Baumann las dann aus der deutschen Übersetzung. Das Buch ist im Original auf Englisch erschienen; Temelkuran behauptet, dass die Milliarden von non-native speaker Englisch aus seinem ursprünglichen Kosmos heraushebeln und in eine expansive Weltsprache verwandeln, in der zum Beispiel das türkische okay – tamam schon so eingegangen sei wie etwa das italienische genug - basta.

Gekommen ist die Zeit der Frauen.

„Die Zeit der Parteien ist vorbei“, erklärte Temelkuran. An das Publikum erging der Aufruf: Lasst uns zu einer Bewegung anschwellen – Let us create a movement.

Temelkuran sagt, der Neoliberalismus habe die Menschen weltweit um ihre Würde gebracht.

„Wir wollen unsere Würde zurück, von denen, die sie uns gestohlen haben.“

Den Triumphzug rechter und rechtsextremer Parteien nannte Temelkuran ein „moralisches Desaster“. Rechts und rechtsextrem seien im Übrigen nur Euphemismen für Faschismus. Während lange allgemein die Vorstellung vorherrschte, der Westen habe Neunundachtzig gesiegt und nötige seither die Welt mit ihm Schritt zu halten (Francis Fukuyama), gibt sich nicht erst seit gestern das Gegenteil zu erkennen. Unter Druck geratene Demokratien experimentieren mit den Möglichkeiten der Einschränkung von Freiheitsrechten und ernten für Repressionen & Regressionen ausreichend Zustimmung.

Temelkuran brachte dem Auditorium noch einmal Hillarys (auf die Trump-Wähler gemünztes) Wort vom basket of deplorables in Erinnerung. Trump-Wähler suchen „die Schuld an der Verschlechterung ihrer Lebensumstände bei den Verfechtern der Political Correctness, bei Farbigen, Immigranten und Muslimen“ (Nancy Faser). Ihre Paranoia kreuzt kosmopolitische Eliten mit tribalistisch organisierten Migranten. Im Gegenzug rechnet man sie in den Korb voller Kläglichem und entwertet so Lebensleistungen, die zweihundert Jahre lang im Spektrum der Respektabilität lagen. Danach gieren sie, doch während sie bei jeder Gelegenheit Respekt fordern, so Temelkuran, sind sie nicht bereit, Andersdenkenden Respekt zu beweisen.

Aus der Verlagsvorschau

„Eines Morgens wachst du auf und fragst dich, ob dieses Land, in dem du dich immer zuhause gefühlt hast, in dem du brav zur Wahl gehst und das du – trotz aller Kritik! – deine Heimat nennst, noch dein Land ist. Dieser Morgen kann der Morgen nach dem Putsch in der Türkei sein, nach der Brexit-Entscheidung oder einer europäischen Wahl, die Rechtspopulisten neue Rekordwerte eingebracht hat: Populismus ist zur globalen Krankheit geworden. Anstatt in politische Schockstarre zu verfallen, nach dem Bösen in der Natur des Menschen zu fragen oder sich ins innere Exil zu begeben, müssen wir, so Ece Temelkurans dringender Appell, der Gefahr ins Auge sehen. Selbst wenn Trump oder Erdogan heute von der politischen Bühne abträten, sind ihre Wähler eine bleibende Realität: Populismus verschwindet nicht mit ein paar megalomanen Führungsfiguren. In der Türkei hat Temelkuran erlebt, wie sich Bürger binnen kürzester Zeit in willfährige Marionetten verwandelt haben. Wir dürfen uns nicht auf die lokalen Ursachen beschränken, so die Autorin. Um dem populistischen Zeitgeist entgegenzutreten und die Demokratie zu verteidigen, braucht es eine internationale Debatte, in die sich jede(r) einbringen sollte. Dieses Buch könnte ein Ausgangspunkt dafür sein.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden