Phönix aus der Flasche

Literatur Benjamin von Stuckrad-Barre lässt es mit Kamillentee krachen

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Benjamin von Stuckrad-Barre im Mai 2012
Benjamin von Stuckrad-Barre im Mai 2012

Foto: Christian Augustin/Getty Images

Phönix aus der Flasche

Benjamin von Stuckrad-Barre lässt es mit Kamillentee krachen

Gottfried Benn erklärte den evangelischen Pfarrhaushalt zum Hochofen des deutschen Geistesadels. Benns Vater war Pfarrer, Gudrun Ensslins Vater auch. Carl von Linde, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Nietzsche, Benjamin von Stuckrad-Barre - alles Pfarrerskinder.

Im öko-pazifistischen Weltrettungs- und Chorleitungsfieber überhitzte Eltern zwingen Stuckrad-Barre auf Gegenkurs. Er wünscht sich konsumorientierte, markenbewusste Versorger. Der Künstler als Knirps will Nutella und kriegt Verständnis. Das widerfährt ihm in einer niedersächsischen Ringburg der Verspätung. Da wird Udo L. aus Gronau in Westfalen zum Idol.

Die Weltstadt Göttingen bietet sich der gespannten Erwartung des Heranwachsenden als Exil an. Im Café Kadenz trifft Stuckrad-Barre seinen ersten Mentor - den Herausgeber eines Stadtmagazins. Bald meistert er das hochstaplerische Vokabular des Musikredakteurs von eigenen Gnaden. Die Wunder der Bemusterung erscheinen alltäglich.

Stuckrad-Barre begreift das Rodeo der Wildplakatierung. Er engagiert die “Bates”, eine Eschweger Punk-Supernova. Er betreut Jörg Fauser und registriert Achim Reichel, der für Fauser wichtig war.

Stuckrad-Barre steigert die Dosis, das ist sein Muster. Ihm ist zu klein, was in der Munizipalität Göttingens groß sein kann. Er könnte Guntram Vesper und Gunter Hampel treffen; den jungen Mann zieht es zum Lindenberg nach Hamburg. Er beginnt eine Portmanteau-Existenz, etabliert sich als “Spezialist für abgelegte Fälle” und wühlt sich durch “kulturellen Sondermüll”. Das geht so zügig weiter bis ins Château Marmont und zu Bret Easton Ellis, dessen Debütroman, “Unter Null”, Stuckrad-Barre zu seinen Reliquien zählt.

Der Autor schwelgt, schwärmt und schäumt. Das Vergnügen schleift ihn.

“Abends saufen gehen kostete praktisch gar nichts mehr.”

Ich lese “Panikherz” als Autobiografiefiktion. Am Liebsten halte ich das Buch für eine narrative Diversion.

Stuckrad-Barre steigert sich zur Polytoxikomanie. Von Strafverfolgung wird abgesehen, man schickt den delinquenten Patienten in die Kur. Wenigstens drei Entzüge gliedern den Text und bereichern ihn mit Chiemsee- und Schwarzwaldstimmungen. Im letzten Durchgang ist der Abhängige nicht mehr versichert. Das beschreibt schon seine Stationierung.

Stuckrad-Barre leidet wie der späte Oscar Wilde. Er zählt Fatalitäten ständiger Nüchternheit auf. Die Drohungen eines Rückfalls wohnen ihm wie die Inquistion bei; er lebt an gegen die Sucht. Mit Tabletten versichert er sich gegen den Rückfall.

Stuckrad-Barre thront auf dem Gipfel der Unfreiheit jedes Dependenten und nimmt für Kokain nur noch den Ruhm seiner Nationalgardisten Gottschalk, Schmidt, Küppersbusch, Dietl, Westernhagen und Lindenberg. Alle kratzten schon am Zenit, bevor Stuckrad-Barre kam (abgesehen von H.S.). Das soll kein Einwand gegen die Wallfahrten und den Bewunderungshunger des Autors sein. Er zitiert Dietl: “Wie auch immer - am End wollen's alle a lichtdurchflutete Altbauscheiße.”

Das ist schon sehr genau.

“Panikherz”, Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 22,99 Euro

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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