Donald Trumps Wahl zum US-amerikanischen Präsidenten war für Fukuyama „ein Schock“. Mit diesem Bekenntnis beginnt der Politikwissenschaftler eine Analyse der Irrationalität. Er nennt Gründe, die Bürger*innen dazu veranlassen, mit Wahlentscheidungen die eigene Basis anzugreifen. Fukuyama zieht Osama Bin Laden heran, der nach Angaben seiner Mutter als Adoleszent von Schilderungen des palästinensischen Elends zu Tränen gerührt worden sei. Das Leid anderer Muslime nahm er persönlich. Fukuyama nennt „die Wut über Erniedrigungen … einen mächtigen Faktor“. An anderer Stelle erfasst er das Phänomen als „Politik des Unmuts“. Trump und Putin repräsentieren den Unmut. Sie predigen den Massen Herders Genie der Völker. Die Lightversionen großer Gesänge werden als Abgesänge nicht erkannt. Die Potentaten spielen Soul für Verarmte und Verarmende.
Francis Fukuyama, „Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“, Hoffmann und Campe, 236 Seiten, 22,-
Fukuyama zählt auf, was alles schwerer wiegt als Geld und trotzdem zieht. Was uns treibt, sei „der Wunsch nach Anerkennung“. Da sich die Bedingungen dafür ständig ändern (können), müssen wir viel Unsicherheit ignorieren.
Fukuyama beschreibt Trump und Brexit als Folgen von Entwicklungen, die Verhältnisse von den Füßen auf den Kopf zu stellen drohen. Die aus der Offensive gedrängten Weltordnungsgroßmeister – Britannia rule the waves; Britons never will be slaves – verweigern die Erfüllung eines Vertrags, den sie anderen einst aufzwangen. Solange der ungebremste Güterfluss die angloamerikanische Vorherrschaft begünstigte, brachen Amerikaner und Briten in verschlossene Häfen ein. Jetzt dichten sie die eigenen Häfen ab. Das gibt Fukuyamas These vom Ende der Geschichte die Chance anders wahr zu werden. Die liberalen Demokratien übergeben sich gerade anderen Formaten. Das ist unsere Gegenwart. Darin verliert der Westen seine Gewissheiten.
In der Informationssteinzeit sind die westlichen Industriegesellschaften Destabilisierungen ausgesetzt, die aus dem System kommen. An die Stelle der Effizienz tritt die Identität. Nach Fukuyama ist Identität der übriggebliebene Bestandskern eines Konzepts, das Individualität über Kollektivlösungen stellte. Lange war die Schärfung der Identität ein Aufsteigermerkmal. Nun ist Identität ein Trost für Absteiger. Fukuyama erklärt das am Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Vom Gleichstellungsgedanken ausgehend, sei man in Ausschlussverfahren zu quantifizierenden Identitätspostulaten übergegangen, in denen der Impetus von Sezessionen steckte. Normalität bedeutete dann, dass sich an die Mehrheitsgesellschaft gut Angepasste nicht mehr sicher sein konnten, ob die schwarze Norm sie noch erfasste, oder sie sich als Dissidenten zu begreifen hatten. Das ergab sich aus Identitätspolitik.
Während Trump alle Amerikaner unter seinen Hut bringen wolle, so Fukuyama, sei die amerikanische Linke dabei, immer kleinere Minderheiten für den Informationskrieg zu bewaffnen. Das Kaderwissen reicht noch aus, um auf kommunaler Ebene zu wirken. Fukuyama schildert ferner, was seit dem Arabischen Frühling alles nicht passiert ist, und wie man mit Islamismus Identitätspolitik betreiben kann.
Francis Fukuyama, „Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“, Hoffmann und Campe, 236 Seiten, 22,-
Kommentare 1
Danke sehr. Ich habe den Fukuyama (noch?) nicht gelesen, mittlerweile aber viel darüber. Das Verhälnis von Identitätspolitiken vs. universalistischen Konzepten wird von vielen diskutiert.
Mir gefällt Cornelia Koppetsch: „Spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps sieht sich die Linke sowohl in Amerika als auch in Europa mit dem Vorwurf konfrontiert, sich in der Vergangenheit zu sehr auf Fragen der repräsentation gesellschaftlicher Minderheiten kapriziert und darüber Ideen wie Solidarität und Umverteilung vernachlässigt zu haben.[1] Verhandelt wird dieser Vorwurf unter dem Schlagwort der „Identitätspolitik“. Die derzeit prominentesten Vertreter dieser Auffassung, US-Amerikaner Francis Fukuyama und Mark Lilla, haben dazu mit Identity (2018) beziehungsweise The Once and Future Liberal (Lilla 2017) beiderseits des Atlantiks vielbeachtete Bücher vorgelegt,[2] die sich an einer historischen Analyse versuchen.“ ... „All das klingt auf den ersten Blick so vernünftig, dass zunächst gar nicht auffällt, dass schon der Ansatz von falschen Voraussetzungen ausgeht. Das Problem besteht nicht allein darin, dass hier einmal mehr Klassenpolitik gegen Identitätspolitik ausgespielt wird.[3] Gemessen an den strengen Kriterien Fukuyamas wäre nämlich auch die während des 20. Jahrhunderts von den Gewerkschaften betriebene Klassenpolitik überwiegend als ‚Identitätspolitik‘ zu werten, da sie ihrer Natur nach keineswegs universalistisch, sondern partikularistisch war und in erster Linie den Interessen der weißen männlichen Arbeiter (und Angestellten) diente.“ https://soziopolis.de/artikeluebersicht/artikel/ressentiments/
Auch würde ich gerne in der Diskussion über die Funktion von Würde und Identität den „Klassiker“ zum Thema erwähnt finden: Honneths „Kampf um Anerkennung - Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ Fände ich spannend.
Nochmals Danke für den Beitrag.