Rhetorik des Verdachts

Antisemitismus In der Berliner Landeszentrale für politische Bildung unterhielten sich Sina Arnold, Doron Rabinovici, Natan Sznaider und Christian Heilbronn über neuen Antisemitismus

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Der Antisemitismus legalisiert sich selbst. Er kehrt auf die politische Bühne zurück und feiert sich als Triumph der Straße
Der Antisemitismus legalisiert sich selbst. Er kehrt auf die politische Bühne zurück und feiert sich als Triumph der Straße

Foto: Allen Berezovsky/Getty Images

Georg Simmel begreift Antisemitismus „als Nebenprodukt der Zivilisation“. „Die große Explosion des Antisemitismus“ (Max Horkheimer) war kein Unfall der Geschichte. Seine Einordnung als zivilisatorische Entgleisung ist weniger als eine geeignete Entlastungsstrategie. Wie in einer kollektiven Psychose lief Jahrzehnte alles Mögliche auf den Holocaust zu und zwar so sehr im Schubverbund mit bürgerlichen Maßstäben, dass die Maßstäbe als Korsett des seelischen Überlebens der Täter*innen nicht versagten. Eine Tragik des Holocausts liegt in Verhältnissen, die den Täter*innen ein persönliches Weitermachen erlaubten und sogar Gewinne aus der Tabuisierung des offenen Antisemitismus nach Fünfundvierzig gestatteten. Antisemitismus avancierte zum heimlichen Wissensvorsprung in Umkehrung seiner Voraussetzungen bis Fünfundvierzig. Freud beobachtet in seiner „Massenpsychologie“ reaktive Veränderungen des Einzelnen sobald ihn eine Masse ansaugt. Es kommt zu Vereinheitlichungen und Vereinfachungen im Zuge eines Abtrags des „psychischen Oberbaus“. Diesen homogenisierenden Abtrag stellten Antisemiten nach Fünfundvierzig dem Kollektiv in Rechnung, als etwas, dass notwendig da ist, nur eben gerade mal nicht so sichtbar wie vorher. Da liegt der antisemitische Hase im Pfeffer, oder, um es mit Natan Sznaider zu sagen: „Ohne Christentum und Islam keinen Antisemitismus.“

Die Einsicht fand wenig Resonanz in einem Gespräch über neuen Antisemitismus in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Daran beteiligt waren Sina Arnold und Doron Rabinovici, Natan Sznaider und Christian Heilbronn

als Herausgeber von

„Neuer Antisemitismus? - Fortsetzung einer globalen Debatte“, Suhrkamp, 490 Seiten, 20,-

Der Titel reagiert auf eine Publikation aus dem Jahr 2004, als man den antisemitistischen Stand der Dinge mit der Erwartung maß, Fortschritte auf der ganzen Linie verzeichnen zu können. Inzwischen herrscht Alarm. Der Antisemitismus legalisiert sich selbst. Er kehrt auf die politische Bühne zurück und feiert sich als Triumph der Straße. Seinen Stereotypen werden die Tarnkleider abgenommen. Der Soziologe Sznaider erinnerte an Sigmund Freuds (in einem Stefan Zweig gewidmeten Brief geäußerte) Unlust, Antisemitismus wissenschaftlich anzugehen. Er „verspüre“ den Drang, „sich meinen Affekten zu überlassen“ in der Gewissheit, „dass meine lieben Mitmenschen - mit einzelnen Ausnahmen - Gesindel sind“.

Doron Rabinovici in der Berliner Landeszentrale für Politische Bildung

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Rhetorik des Verdachts

Rabinovici sprach von einer „Rhetorik des Verdachts“, mit der Antisemit*innen die Investigationsinstanzen der Gegenseite überzögen, um Aufdeckungen zu delegitimieren. Die dem Vorwurf antisemitischer Äußerungen Ausgesetzten behaupten gern, das gegnerische Argument erschöpfe sich in der Unterstellung oder in unstatthaften Gleichsetzungen. Ein prominentes Beispiel für Antisemitismus verleugnenden Antisemitismus ist die sich antiisraelisch ausweisende Kampagne für einen Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS). Sie wurde 2005 von palästinensischen Organisationen gegründet und hat von Desmond Tutu über Ken Loach bis Judith Butler Fürsprecher*innen gefunden. Diese Leute bezeichnen Israel als „Apartheidstaat“ und reden von „ethnischen Säuberungen“. Obwohl der BDS in allen Debattenbeiträgen auftauchte, verweigerten sich die Wissenschaftler*innen auf dem Podium einer eindeutigen Deklaration des BDS als antisemitische Kollaboration. Auch der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn blieb als schillernde Figur im Spektrum der Satisfaktionsfähigkeit.

Dazu bald mehr. Anbei meine Buchbesprechung:

Metamorphosen des Antisemitismus

In den Aufstiegsagenturen des 19. Jahrhunderts wurden Diskriminierungskonzepte obsolet, die lange aufhaltend gewirkt hatten. Ressentiments bedurften neuer toxischer Ladungen. Die „Entzauberung“ der Welt als Fortschrittsfolge formte auch den Antisemitismus um. Marx und Rothschild mussten auf einen Nenner gebracht werden. Zurückgegriffen wurde auf das Bild vom janusköpfigen Dämon. Der Mythen-Fledderei zur Seite stellte man „quasiwissenschaftliche“ Blut- und Rasse-Erklärungen. Gerd Koenen befasst sich damit in „Mythen des 19.,20. und 21. Jahrhunderts“. Der Aufsatz gehört zu der von Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider herausgegebenen Sammlung „Neuer Antisemitismus? - Fortsetzung einer globalen Debatte“.

Fortgesetzt wird der Debattenband „Neuer Antisemitismus - Eine globale Debatte“ aus dem Jahr 2004. Die alten Texte wurden überarbeitet. Neue sind dazugekommen. Man findet Beiträge von Omer Bartov, Ulrich Beck, Micha Brumlik, Ian Buruma, Judith Butler, Dan Diner, Daniel Jonah Goldhagen, Thomas Haury, Jeffrey Herf, Tony Judt, Gerd Koenen, Matthias Küntzel, Antony Lerman, Andrei Markovits, Michael Walzer, Robert Wistrich und Moshe Zimmermann.

Der Antisemitismus ist sich selbst genug

Der letzte Jahresbericht über Antisemitismus des israelischen Diasporaministeriums schildert weitere Metamorphosen. Die Zahl der Vorfälle steige über alte Rekordmarken. Dem islamistischen Antisemitismus den Rang abgelaufen habe rechtsextremer Antisemitismus in Nordamerika und Europa. Die Autor*innen der Studie erkennen Gründe im Globalismus, in einem polarisierten politischen Diskurs und in diversen Einwanderungskrisen. Liest man Koenen, findet man Phänomene und Motive der Gegenwart schon in der Gründerzeit. Stets bringt man Juden mit Expansionen in Verbindung, von denen man selbst ausgeschlossen oder (nach eigener Einschätzung) negativ betroffen ist. Manchmal dient Antisemitismus als sozialer Kitt und gestattet eine Verständigung unter potentiellen Gegnern. Zumal in der Spielart Israel-Hass ergeben sich furiose Allianzen. Die Feministin Tamika Mallory konferiert mit dem bekennenden Antisemiten Louis Farrakhan.

Der erste Band erschien im Verlauf der zweiten Intifada, deren Ende zum Zeitpunkt der Auslieferung nicht abzusehen war. Die Autor*innen erwarteten einen global angreifenden Antisemitismus. Der europäische Antisemitismus wurde als politischer Reflex begriffen und in einen Zusammenhang mit Entwicklungen im Nahen Osten gestellt; so als bräuchte er etwas anderes als sich selbst. Tony Judt sieht sogar das faschistische Gespenst im Braunhemd wiederauferstehen. Spannt man die Befürchtung an die links-intellektuelle Israelkritik und den Antizionismus etwa eines Daniel Cohn-Bendit oder Detlef Claussen, versteht man den Alarm noch besser, der Naftali Bennetts Verkündungen im Diasporaministerium begleitete.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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