Geborener Lügner

Hannah Arendt Eichmann in Jerusalem - Hannah Arendt als Gerichtsreporterin

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Als sie zum Prozess fliegt, hat sie kein Buch im Sinn. Hannah Arendt will „das Unheil in seiner ganzen unheimlichen Nichtigkeit … besehen“. Insofern reist sie mit ihrem Fazit an. Ihre Begriffe vom „Massenmord als Verwaltungsakt“ folgen nicht zuletzt Einsichten aus den Nürnberger Prozessen. Die Philosophin weiß, dass sich in keiner einzelnen Person die organisierte Vernichtung zum Kainsmal verdichtet. Der Faschismus prägte einen Tätertyp, der sich in der Bloßstellung nicht zwangsläufig selbst verdammen muss.

Arendt entzieht sich dem Geschehen am 29. Sitzungstag am 5 Mai 1961. Sie verarbeitet im Weiteren „unredigierte Niederschriften der Simultanübersetzungen“ sowie andere Schriftsätze. Eine Kolossalquelle liefert die 3564 Blatt starke Transkription des Verhörs. Eichmann wurde von Avner Werner Less vernommen.

Das erklärt Werner Renz. Ich beschäftige mich mal wieder mit dem Katalog „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“.

Nachdenken über Hannah Arendt - Bei Piper erschien gerade »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert«. Der Band begleitet eine gleichnamige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin.

Mit Beiträgen von Micha Brumlik, Ursula Ludz, Marie Luise Knott, Jerome Kohn, Wolfram Eilenberger, Norbert Frei, Barbara Hahn, Thomas Meyer, Ingeborg Nordmann und Liliane Weissberg. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.)

Vermeiden und Vernebeln

Kurz zu Less. Der aus Berlin gebürtige Fachmann für Wirtschaftskriminalität unterzieht Eichmann im Verlauf von acht Monaten 275 Stunden lang einem Verhör. Er beschreibt Eichmann, so Wikipedia, als „geborenen Lügner, der nur die Wahrheit sagen wird, wenn sie ihm nützlich erscheint“. Der Verhörte nimmt Zuflucht zur Ermüdungsrede. Er schweift ab und aus.

Less offeriert Eichmann Entlastungsangebote in den Nebelauen der Selbstexkulpation. Eichmann kann seine Rolle nur verkleinern, indem er sie beschreibt. Der „Spiegel“ behauptet vorsorglich, die Geständnisse seien erzwungen. Die Macher des publizistischen Sturmgeschützes unterschätzen Less. Er macht Angebote, die Eichmann nicht ausschlagen kann. So wird ein Hauptschuldiger (auch) zum Zeugen der Anklage.

Arendt hält ihre Reaktion auf den Prozess für einen „bloßen Bericht“ und nennt die nachfolgende Kontroverse „eine organisierte Kampagne“. Bekanntlich wirft man der Autorin „israelfeindliche Polemik“ vor. Gershom Scholem meint, ihr fehle „die Liebe zu den Juden“. Arendt selbst spricht von „einer Instrumentalisierung des Verfahrens zu politischen Zwecken“.

Brennend interessiert

Mit brennendem Interesse verfolgt Arendt die Ereignisse in Deutschland. Schon 1945 kehrt sie in den Austausch mit ihrem Doktorvater Karl Jaspers zurück. Jaspers verschafft seiner berühmtesten Schülerin Publikationsgelegenheiten. Arendt lässt sich in die Akademie für Sprache und Dichtung aufnehmen und eine Ehrung gefallen. Gleichzeitig schildert sie mit „illusionslosem Sarkasmus … die geistige Situation“ der Adenauer-Restauration. Arendt unterbricht 1961 ihren Prozessbesuch in Jerusalem, um Jaspers in Basel zu treffen und dann weiter nach München zu fahren. Bayrischer Kultusminister ist Theodor Maunz, der 1964 zurücktreten muss, aber weiter Professor und maßgeblicher Grundgesetzkommentar bleibt.

Maunz in den 1930er Jahren: „Dieses System hat … den alten Gesetzmäßigkeitsgrundsatz ersetzt, seitdem an die Stelle des alten Gesetzes der Wille des Führers getreten ist.“

Rückblende

Rahel Varnhagens Salon vergesellschafte den „Augenblick einer sozialen Utopie“. Er endete 1806 mit dem Berliner Auftritt Napoleons. Die Löwin führte ihren Salon schriftlich weiter. Die Gastgeberin avancierte zur Femme de lettres. Arendt zeichnet den Weg aus dem warmen Regen eines Hoffnungsüberschusses hin zur resilienten Festungsexistenz in der 1955 erschienenen Abrechnung „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft.

Arendt sieht in Varnhagen das Gegenmodell zum um Anerkennung bemühten, zur Assimilation entschlossenen „Parvenü“, der mit seinen Anstrengungen den „Paria-Status“ abzustreifen versucht. Arendt begreift Varnhagen als vorbildliche Akteurin auch insofern, als sich Varnhagen (nach Arendts Ableitung) der Assimilation verweigert.

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1929 heiratet Arendt den Philosophen Günther Stern. Das Paar etabliert sich in Berlin. Da studiert Arendt Varnhagens Korrespondenz und widmet die Analyse Anne Mendelsohn. Die Konzentration auf eine Ikone der Emanzipation entspricht einer politischen Manifestation in Zeiten des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus. Arendts Doktorvater Karl Jaspers fördert seine Schülerin mit Skepsis. Er rät zur Zurückhaltung durch die Blume akademischer Argumente.

Arendt dokumentiert für einen NSDAP-Watch antisemitische Propaganda. Sie engagiert sich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Bald darauf emigriert sie nach Paris. Es ergibt sich ein Kontakt zu Walter Benjamin, der sie ermutigt, sich weiter mit Varnhagen zu beschäftigen.

1941 erreicht Arendt New York. Sie fasst sofort Fuß und steht bald beidbeinig als Journalistin und Wissenschaftlerin im Berufsleben.

Arendt befasst sich mit „Flucht, Staatenlosigkeit und Minderheitenrechten“. Sie titelt: „We Refugees“. Historische Ereignisse beschränken „jüdische Lebensformen auf die Rollen von Flüchtlingen und Opfern“. Stets bleibt ihr bewusst, dass ihr in Deutschland eine Karriere verwehrt wurde, auf die sie Anspruch hatte.

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Arendts Plural verbindet die in die Flucht getriebene Juden. Der Antisemitismus zwingt die Denkerin zur Solidarität. Er raubt ihr eine Freiheit und macht sie zum Sprachrohr. Er konfiguriert sie.

Arendt empört sich kaum, findet es aber doch immer wieder notwendig, die zerfetzte Fahne ihres säkularen Anfangs neben den jüdischen Bannern der Not- und Hoffnungssolidarität aufzupflanzen.

„Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden sprechen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Nationalität anzugeben.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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